Rekonstruktion von Habelia optata, einem kleinen aber effizienten Räuber des Kambriums.
Illustr.: Joanna Liang/Royal Ontario Museum

Toronto – Vor etwa 540 Millionen Jahren schien die biologische Artenvielfalt auf der jungen Erde förmlich zu explodieren. In einem geologisch äußerst kurzen Zeitraum am Übergang vom Präkambrium zum Kambrium trat plötzlich eine enorme Zahl neuer mehrzelliger Spezies in Erscheinung, die sich heute anhand vieler fossiler Belege nachweisen lassen. Binnen weniger Jahrmillionen entstanden dabei praktisch alle heute bekannten Tierstämme, sowie einige Kreaturen, die so fremdartig wirken, dass sie sich nicht in die moderne Systematik einordnen lassen. Für sie wurden völlig neue, heute wieder ausgestorbene Stämme vorgeschlagen.

Eine der bisher ergiebigsten Fundstätten für fossile Überreste aus dem Kambrium liegt in den kanadischen Rocky Mountains. Im 505 Millionen Jahre alten Burgess Shale haben sich dank des besonders feinkörnigen Schiefertons und speziellen chemischen Bedingungen die urzeitlichen Sedimenten in 200 Metern Meerestiefe perfekt erhalten und dabei einen üppigen Querschnitt des marinen kambrischen Ökosystems konserviert.

Bis vor kurzem war unklar, wo dieses Wesen seinen Platz im Stammbaum hat.
Foto: Jean-Bernard Caron/Royal Ontario Museum

Klein aber oho

Unter den dortigen Fossilien fanden die Wissenschafter bereits vor Jahrzehnten auch die Überreste einen kleinen aber grimmig aussehenden Gliederfüßers: Habelia optata war zu Lebzeiten vor 508 Millionen Jahren inklusive Schwanz nur rund zwei Zentimeter lang. Was dem gepanzerten Meeresräuber an Körpergröße fehlte, machte er wohl durch seine zahlreichen wehrhaften Mundwerkzeuge und spitzen Dornen auf seinem Kopfschild wett.

Frühere Untersuchungen ordneten Habelia in die Gruppe der Mandibeltiere (Mandibulata) ein, aus denen später die Insekten, Tausendfüßer und Krebstiere hervorgehen sollten. Diese stammesgeschichtliche Zuteilung war allerdings umstritten und letztlich blieb das Rätsel um die Verwandschaftsverhältnisse dieses Tieres ungelöst.

Video: 360 Grad-Darstellung von Habelia optata.
Royal Ontario Museum

Uralter Spinnenvorfahre

Nun hat sich ein kanadisches Team um Cédric Aria von der University of Toronto Habelia optata noch einmal vorgenommen. Die detaillierte Analyse von insgesamt 41 Fossilien ergab, dass das Wesen in Wahrheit der bislang älteste bekannte Verwandte des Urahnen der zweiten großen Gruppe von Gliederfüßern ist: Der Kieferklauenträger (Chelicerata), zu denen unter anderem die heutigen Pfeilschwanzkrebse und Spinnentiere zählen.

Die Forscher zogen ihre Schlüsse vor allem aus der Anordnung der Kopfanghängsel von Hablia, die große Ähnlichkeit mit jenen späterer Chelicerata aufweisen. "Habelia optata zeigt klar die anatomische Architektur eines Wesens, aus dem die späteren Kieferklauenträger hervorgegangen sind", berichten Aria und seine Kollegen im Fachjournal "BMC Evolutionary Biology".

Video: Die zahlreichen Kieferfortsätze machten Habelia optata zu einem gefürchteten Jäger der kambrischen Meere.
Royal Ontario Museum

Parallelen zu modernen Skorpionen

Die Untersuchungen ergaben unter anderem, dass Habelia vor über 500 Millionen Jahren mit Kopf und Thorax bzw. Post-Thorax bereits den Aufbau späterer Nachfahren der Chelicerata vorweggenommen hat. "Heutige Skorpione und die ausgestorbenen Seeskorpione besitzen die selbe dreiteilige Körperstruktur", sagt Aria.

Einen großen Unterschied gibt es allerdings: Während die Beine von Skorpionen im Kopfbereich entspringen, besaß Habelia beinartige Fortsätze, die an ihrem Thorax ansetzten. Diese anatomische Besonderheit erlaubte es Habelia laut den Forschern, ausgesprochen komplexe Kopfanhängsel zu entwickeln: "Diese Wesen verfügten über fünf Paare von Mundwerkzeugen zum Zerteilen ihrer Opfer, ein Paar beinartiger Fortsätze mit Borsten zum Packen der Beute und ein Paar verlängerter "Fühler", die vermutlich als Tastorgan gedient haben.

Schematische Darstellung der Körperstruktur von Habelia optata. Im Unterschied zu heutigen Skorpionen setzen bei diesem Spinnentier-Verwandten die Beine am Thorax an.
Grafik: Joanna Liang/Royal Ontario Museum

Effizienter Räuber

"Dieses Arsenal an Kopfanhängseln und Kiefern machte Habelia optata vermutlich zu einem außerordentlich erfolgreichen Jäger. Die Kreatur war offensichtlich sowohl äußerst mobil als auch sehr effizient beim Auseinandernehmen seiner Beute", so Aria. (tberg, 31.12.2017)