Neben anderen kulturpessimistischen Befunden geht Philipp Blom im Standard-Interview vom 28. 12. auch auf die Hoffnung auf Armutsreduktion ein, die sich nicht verwirklicht habe: "Die Hoffnung von Vorgängergenerationen war ganz anders. Sie hofften, dass die Fortschritte in Wissenschaft und Medizin die Welt verbessern und Armut abschaffen werden. Das hat sich zwar als unsinnig herausgestellt, aber es hat diese Gesellschaften getragen. Die gegenwärtige Situation gibt keinen Anlass zur Hoffnung."

Dieser Aussage muss aufgrund der Faktenlage widersprochen werden:

Als ich zehn Jahre alt war, im Jahre 1970, lebten 2,2 Milliarden Menschen unter der "absoluten Armutsgrenze", hatten also kaufkraft- und inflationsbereinigt weniger als 1,90 US-Dollar pro Kopf und Tag zur Verfügung – das waren damals 60 Prozent der Weltbevölkerung. Das Jahr 1970 markiert freilich auch eine Trendwende, denn ab dann begann die globale Armut sukzessive zu sinken – und dies nicht nur prozentuell, sondern auch in absoluten Zahlen.

Heute leben rund 800 Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze, das sind bei rund 7,5 Milliarden Menschen im Jahr 2017 rund 10,7 Prozent der Weltbevölkerung. Enorme Fortschritte in der Armutsreduktion konnten vor allem seit den 1990er-Jahren erzielt werden, die ambitionierten Ziele der 2000 in Kraft tretenden Millennium Development Goals (MDGs) wurden dabei übertroffen: Das erste Ziel der MDGs – die Armutsrate von 1990 bis 2015 um die Hälfte zu reduzieren – wurde schon 2010 verwirklicht. Lebten 1990 noch 45 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, so sind es heute besagte 10,7 Prozent. Die von der Staatengemeinschaft im September 2015 beschlossenen Sustainable Development Goals (SDGs) setzen sich zum Ziel, die absolute Armut bis 2030 zur Gänze zu eliminieren.

Der Rückgang der extremen Armut hat vielerlei Gründe – etwa verbesserte Grund- und Gesundheitsversorgung, Fortschritte in Wissenschaft und Medizin, Trickle-down-Effekte durch volkswirtschaftliches Wachstum, Demokratisierung und Korruptionsabbau, massive Investitionen in Bildung, sinkende Fertilität u. a. Ich kann mich selbst noch erinnern als Mitte der 1980er-Jahre für das Jahr 2000 neun Milliarden Menschen prognostiziert wurden, tatsächlich waren es etwas mehr als sechs Milliarden. Heute leben 7,5 Milliarden Menschen auf der Welt, und vorsichtige Prognosen gehen davon aus, dass der zu erwartende "peak" 11,5 Milliarden nicht überschreiten wird, wobei dynamischere Prognosen errechnen, dass sich die Weltbevölkerung laut UN-Schätzungen schon in den kommenden 30 Jahren bei maximal 9,5 Milliarden eingependelt haben wird. Die sinkende Fertilität ist Ursache und Folge des globalen Wohlstandsgewinns und der erfolgreichen Armutsreduktion – denn der höchstkorrelierende Faktor für sinkende Fertilität ist überall die sinkende Kindersterblichkeit, und die zeigt wiederum ziemlich treffsicher an, ob und in welchem Ausmaß Menschen in Armut leben.

Obwohl sich im 20. Jahrhundert die Weltbevölkerung verfünffacht hat – nämlich von 1,5 auf heute 7,5 Milliarden Menschen -, ist es gelungen, den Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung von 60 auf 10,7 Prozent zu reduzieren. Eine gigantische zivilisatorische Leistung, die viel Hoffnung auf eine sowohl sozial als auch ökologisch verträglichere Zukunft gibt. (Andreas Obrecht, 29.12.2017)