Carlsen – Inarkiew: Schwarz zog soeben (regelwidrig) Se3+. Gibt es nun einen legalen Zug für Weiß?

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Magnus Carlsen fackelt nicht lange, es ist ja auch Blitzschach.

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Wien/Riad – Eigentlich sind die Schachregeln nicht so kompliziert, Magnus Carlsen und Ernesto Inarkiew kennen sie vermutlich beide recht gut. Dennoch kam es an Tag eins der Blitzschach-WM in Saudi-Arabien zu einem langandauernden Disput über die Frage, wer die Begegnung des Weltmeisters aus Norwegen mit dem russischen Großmeister für sich entschieden hatte.

La règle du jeu

Magnus Carlsen hatte mit dem missglückten Schnellschach-Turnier zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Tage zum Vergessen hinter sich. Ob der Weltmeister nun in dieser ersten Runde der Blitz-WM einen weiteren Niederschlag hinnehmen musste, diese Frage hatten die Schiedsrichter zu entscheiden. Und das kam so: Carlsen hatte im 27. Zug mit seinem Turm auf b7 geschlagen und Inarkiews König damit Schach geboten. Inarkiew aber, dem nur noch wenige Sekunden auf der Uhr verblieben, dachte gar nicht daran, seinen König regelkonform aus dem Schach zu entfernen. Stattdessen schob er ein Konterschach seines Springers auf e3 ein.

Nun wäre es an Carlsen gewesen, die Uhr anzuhalten und sofortigen Partiegewinn aufgrund des illegalen Zuges seines Gegners zu reklamieren. Der Weltmeister aber tat nichts dergleichen. Stattdessen brachte er seinen König durch einen Zug auf das Feld d3 in Sicherheit – offenbar hatte im Eifer des Gefechts auch Carlsen vergessen, dass Inarkiews König während dieser Zugsequenz die ganze Zeit fröhlich im Schach stand.

Inarkiews Chuzpe

Der Russe hätte jetzt natürlich doch noch Carlsens Turm schlagen und damit die Ordnung, wenn auch einen Zug verspätet, wieder herstellen können. Der Fall wäre dann wohl nicht mehr als eine kleine, witzige Fußnote dieses Turniers geblieben, wie sie in Blitzpartien auch bei den Besten der Zunft manchmal vorkommt. Stattdessen verfiel Inarkiew auf eine Idee, deren Chuzpe durchaus beeindruckt: Er hielt seinerseits die Uhr an, winkte den Schiedsrichter herbei und reklamierte, er habe nun gewonnen, weil Carlsen zuletzt einen illegalen Zug ausgeführt habe! Der Schiedsrichter gab Inarkiews Reklamation nach kurzer Prüfung statt, und der offenbar überrumpelte Weltmeister ließ sich nach zaghaften Protesten sogar zur Unterschrift auf dem Ergbenisformular überreden: 0-1, Punkt Inarkiew.

Dann aber machte der Skandal rasch die Runde. Dem Vernehmen nach war es Carlsens Freund, Jan Nepomnjaschtschi, der schließlich den Oberschiedsrichter über den Vorfall informierte. Der entschied nach Anhörung beider Spieler salomonisch darauf, dass die Partie aus der Stellung vor dem Regelstoß fortzusetzen sei – was nun wiederum Inarkiew verweigerte, der freimütig zugab, dass seine Stellung verloren gewesen war und weiterhin darauf bestand, aufgrund von Carlsens Lapsus zum Sieger erklärt zu werden.

Da der Oberschiedsrichter dieser absurden Logik nicht folgte, Inarkiew aber partout nicht weiterspielen wollte, ging der Punkt nun doch noch an Carlsen. Während die Diskussion noch in vollem Gange war, zeigten die Kameras Routinier Wassyl Iwantschuk, der es sich in Carlsens Sessel bequem gemacht hatte und schmunzelnd die Stellung betrachtete, über die ein paar Meter weiter so leidenschaftlich disputiert wurde.

Carlsen vs. Karjakin

Als säße ihm der Schock aus Runde eins noch in den Knochen, beging der Weltmeister in Runde zwei gleich den nächsten Fauxpas: Gegen Sanan Sjugirow, normalerweise nicht unbedingt des Norwegers Kragenweite, stellte Carlsen eine ganze Figur ein und verlor sang- und klanglos. Zwar nahm der Carlsen-Express mit drei Siegen in Folge dann vorübergehend Fahrt auf, danach lief für den Weltmeister aber ähnlich wenig zusammen wie im Schnellschach-Bewerb: Nach einer Niederlage gegen Yu Yangyi schloss Carlsen Tag eins des Blitz-Events auf dem mehr als enttäuschenden 20. Zwischenrang ab. Bereits zwei ganze Punkte trennten ihn vom Führenden Sergei Karjakin, der damit gute Chancen zu haben schien, seinen 2016 gewonnen Titel im Blitzschach dieses Jahr zu verteidigen.

Was immer Magnus Carlsen an Tag zwei gefrühstückt haben mag, ein Clown dürfte es nicht gewesen sein. Denn an diesem Samstag hatten seine Gegner in Riad nichts mehr zu lachen. Mit einem Sieg über Alexander Grischtschuk, der ihn in der Schlussrunde des Schnellschach-Bewerbs noch vernichtend geschlagen hatte, leitete der Weltmeister eine fantastische Serie ein, die ihm achteinhalb Punkte aus den folgenden neun Runden bescheren sollte. In Runde 15 kam es zum Gipfeltreffen mit dem bis dahin führenden Sergei Karjakin, das Carlsen mit einem schneidigen Königsangriff für sich entschied. In anderen Partien balancierte der Weltmeister mehrmals nahe am Abgrund, beging aber jeweils nur den vorletzten Fehler der Partie und hamsterte so Punkt um Punkt.

16 aus 21

Dadurch gelang Carlsen das Kunststück, seine Aufholjagd vom 20. Zwischenrang bereits in der Vorschlussrunde zu krönen. Mit einem Sieg über Anton Korobow legte der Norweger eineinhalb Punkte zwischen sich und seine Verfolger. Ein Abschlussremis gegen Lewon Aronjan bedeutete 16 Punkte aus 21 Partien für Carlsen, der sich damit nach 2009 und 2014 zum dritten Mal Blitzschach-Weltmeister nennen darf. Nachdem der Weltmeister die Konkurrenz in den vergangenen Jahren gerade in den Speed-Disziplinen erbarmungslos dominiert hatte, wäre eine weitere doppelte Enttäuschung (2016 konnte Carlsen weder Schnell-noch Blitz-WM gewinnen) für den Norweger womöglich schwer verdaulich gewesen.

Platz zwei und drei gehen an Vorjahressieger Sergei Karjakin sowie Schnellschach-Weltmeister Vishwanathan Anand. Letzterem gelang das Kunststück, in insgesamt 36 Schnell- und Blitzpartien in Riad nur eine einzige Niederlage quittieren zu müssen. Bei den Damen setzte sich die Georgierin Nana Dsagnidse mit 16,5 aus 21 vor Valentina Gunina aus Russland und Schnellschach-Weltmeisterin Ju Wenjun aus China durch. Die nach Tag eins völlig überraschend in Führung gelegene 54-jährige Pia Cramling, kam am Finaltag letztlich auf Platz fünf ein. Wer weiß, dass Cramling bereits 1978(!) ihre erste Schacholympiade spielte, wird die Leistung der schwedischen Legende nicht hoch genug einschätzen können.

Wer ist hier matt?

Die FIDE-Regeln könnten nach diesem Turnier übrigens präzisiert werden müssen. Laut Regelwerk ist ein Spieler nämlich dann schachmatt, wenn sein König im Schach steht und er keinen legalen Zug mehr ausführen kann. Betrachtet man die kritische Stellung der Partie Carlsen – Inarkiew nach dem kreativen (wenngleich illegalen) 27. schwarzen Zug Se3+?!!, so lässt sich mühelos feststellen, dass diese Bedingung formal erfüllt ist: Der weiße König steht im Schach, der schwarze zwar ebenfalls, aber Weiß ist dran und ein legaler Zug ist in dieser illegalen Stellung nicht möglich – war der Weltmeister also vielleicht schachmatt!?

Eine mögliche Lösung des Paradoxons bot unterdessen ein Kiebitz im Internet an: Den allerersten illegalen Zug habe die FIDE bereits mit der Vegabe des Events nach Saudi-Arabien getan, alles Übrige sei daher Makulatur. Vielleicht sind sie am Ende also doch gar nicht so einfach, die Schachregeln. (Anatol Vitouch, 30.12.2017)