Dominik W. Rettinger, "Die Klasse". Übersetzt von Marta Kijowska. € 22,70 / 480 Seiten. Zsolnay, Wien 2017

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Im Jahr 2015 passierte etwas, was niemand für möglich gehalten hätte. Polen, das Lieblingsland der EU und ein erklärter Fan der westlichen Welt, beging an der Wahlurne einen Fehltritt, der sich gewaschen hatte. Man wählte wie aus dem heiteren Himmel die ultranationale Partei PiS. Ihr Chef war niemand anderer als der übrig gebliebene Zwilling des 2010 verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski: Jaroslaw Kaczynski, ein Mann, der rechtsnationale Tendenzen vertrat, mit dem Radio Maria gemeinsame Sache machte und generell Weltoffenheit und Toleranz nicht gerade mit dem Löffel gegessen hatte. Noch dazu war er ein glühender Anhänger der abstrusen Theorie, Russland habe 2010 das Flugzeug seines Zwillingsbruders mitsamt 96 offiziellen Gästen bei Smolensk zum Explodieren gebracht.

Osteuropas bewegte Geschichte wirkt nach: Street-Art-Künstler Mariusz Waras kritisiert in Danzig mit einem auf Julius Caesar anspielenden Wandgemälde von Jarosław Kaczyński den autoritären Stil des Chefs der rechtskonservativen polnischen PiS-Partei. Mit Jahreswechsel hat die PiS-Regierung als Teil der "Dekommunisierung" des Landes die Umbenennung mehrerer Straßen und Plätze durchgesetzt. Die Unzufriedenheit im Volk, aufgrund deren die PiS 2015 an die Macht gewählt wurde, ist Thema in Dominik Rettingers Roman "Die Klasse".
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Nur eines war noch schlimmer: Jaroslaw Kaczynskis Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) bekam sogar im Parlament die absolute Mehrheit. Dieses mathematische Wunder war möglich geworden, weil halb Polen am Wahlsonntag zu Hause auf dem Sofa sitzen blieb. So reichten sechs Millionen Kaczynski-Wähler aus, um einem 40 Millionen Seelen zählenden Volk das Gesicht eines Hinterwäldlers zu verpassen.

In ganz Europa griff man sich an den Kopf, und von da an schwebte über Polen eine Frage, die sich jeder stellte, aber niemand aussprach: Sind die sympathischen Slawen an der Weichsel über Nacht verrückt geworden? Was hat sie dazu gebracht, sich eines Abends als liberale, weltoffene Bürger schlafen zu legen, um am nächsten Morgen als kleine Kaczynskis aufzuwachen? Die Antworten waren philosophisch bis trivial.

Eine traf den Nagel auf den Kopf. Der größte Helfer der PiS war die bis dahin regierende prowestliche PO (Platforma Obywatelska). Zahlreiche Affären, Korruption, Freunderlwirtschaft und vor allem Turbokapitalismus, den die PO vorangetrieben hatte, wurden zum Siegeskapital des übriggebliebenen Zwillings Jaroslaw. Sogar Lech Walesa, nicht gerade ein Freund von Kaczynski, gab zu: "Ich wollte nach Polen Demokratie, Wohlstand und Freiheit aus dem Westen importieren, stattdessen haben wir 20 Großkonzerne ins Land gelassen, die mit uns tun, was sie wollen."

Der kleine Mann am Fließband

Die Verbitterung des kleinen Mannes war im Zenit. Gerade einmal den Kommunisten entronnen, fand er sich am Fließband von Ikea und Amazon wieder. Und genau in diese Kerbe schlägt der Kriminalroman Die Klasse des polnischen Autors Dominik W. Rettinger. Geschrieben 2014, also noch unter der PO, zeigt er die Machenschaften der regierenden Eliten und insbesondere der Großkonzerndirektoren, die eine schlichte Philosophie vertreten: "Einer von uns ist mehr wert als tausende von diesen Analphabeten", sagt eine Stelle in diesem Krimi und zeigt, dass der Autor weiß, worüber er da schreibt.

Der Plot ist einfach: Ein hochrangiger Mitarbeiter eines westlichen Großkonzerns wird brutal zusammengeschlagen und entkommt durch Glück nur knapp dem Tod. Der Leser hält ihn sofort für einen rückgratlosen Bösewicht, bis sich herausstellt, dass er aus edlen Robin-Hood-Motiven gehandelt hat. Zusammen mit einem Kumpel, einem bekannten Radiojournalisten, versucht er, die Machenschaften des eigenen Konzerns aufzudecken.

Es geht wie immer um viel Geld. In diesem Fall um einen Bodenschatz, der aus Polen ein zweites Saudi-Arabien machen könnte – eine Anspielung auf die umstrittenen Förderpläne der polnischen Schiefergasvorkommen, die verheerend für die Umwelt wären. Auch im Buch ist der Preis für den Reichtum eine Naturkatastrophe, bei der Tausende ihr Leben verlieren würden.

Als dritter Kämpfer im Bunde gesellt sich zu den beiden ein Oberst des polnischen Geheimdienstes, der selbst unter der Korruption der eigenen Chefs zu leiden hat. Der Schlüssel zum Erfolg, der bis zuletzt immer auf Messers Schneide steht, liegt in einer skurrilen Gemeinsamkeit, die alle drei Kämpfer für das Gute verbindet. Sie haben alle drei vor über zwanzig Jahren in derselben Klasse maturiert. Ein Foto, auf dem jene Klasse zu sehen ist, spielt bei der Lösung des Rätsels eine entscheidende Rolle.

Die "Guten" und die "Bösen" im Thriller

Rettingers wie ein Drehbuch verfasster Thriller verfügt über schnelle Szenenwechsel und ist sehr spannend, wenn man sich auf ihn einlässt. Obendrein durchleuchtet er die momentane Situation Polens besser als so manche Expertenanalyse. Die Klasse lässt auch ein paar philosophische Schlüsse zu. Hier tritt kein einzelner Retter wie James Bond auf, sondern eine Gruppe von mehreren Personen.

Es ist kein Zufall, dass die Jugend der "Guten" in die Zeiten der Solidarnosc fällt: "Einer kurzen Periode der jüngsten polnischen Geschichte, wo unsere Seelen nicht der Materialismus, sondern der wahre Sozialismus beflügelt hat", wie es der verstorbene Philosoph Leszek Kolakowski ausgedrückt hat.

Auch das "Böse" wird nicht auf einen einzelnen Schurken reduziert, sondern hat viele Gesichter und scheint überall zu sein. Es sind korrupte Politiker, gekaufte Polizisten und vor allem die Chefs eines Großkonzerns. Ihre Übermacht scheint erschreckend und die Aussicht auf Erfolg gering. Wie durch ein Wunder schaffen es die Guten noch einmal über die Ziellinie, aber sie wissen, dass sie nur eine Schlacht und nicht den Krieg gewonnen haben. An einer Stelle bezeichnen sie sich selbst als "idealistische Idioten".

Das Wort "Idiot" kommt übrigens wie "Demokratie" aus dem Griechischen und bedeutet "Privatperson". Möchte man etwas Kritisches zu diesem spannenden Krimi anmerken, dann höchstens die Tatsache, dass dort viel zu viel telefoniert wird. Aber ist wirklich der Autor daran schuld? Schließlich hat er dort abgekupfert, wo ein Autor abkupfern muss. Von der Wirklichkeit. (Radek Knapp, Album, 6.1.2018)