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Bringt uns das ständige Bewerten und Schubladisieren wirklich weiter?

Foto: Getty Images

Hannas Mutter holt die Vierjährige nach dem Mittagsschlaf im Kindergarten ab. Noch bevor sie ihr Kind in die Arme schließt, erhält sie per "We-rate-your-kid-App" die Tagesauswertung der Leistung ihrer Tochter. Hanna hat an diesem Tag nicht brav gegessen. Sie konnte nicht einschlafen. Und weil sie sich seit kurzem nicht wohlfühlt, verhält sie sich in der Gruppe anders und bekam prompt von ihren Kindergartenfreunden ein schlechteres Peer-Rating – zum Leidwesen ihrer Eltern. Diese müssen jetzt nämlich höhere Kindergartenbeiträge zahlen, weil die Gebühren direkt an die Performance ihrer Tochter gekoppelt sind.

Heute bewerten wir tatsächlich beinahe alles. Nach dem Besuch der Flughafentoilette geben wir Auskunft über Hygienestandards und Klopapierbestand. Wenn wir uns bei McDonald's unseren Burger maßanfertigen lassen, beurteilen wir die Servicequalität der Mitarbeiter und die Größe der verwendeten Gurkenscheiben. Und auf Amazon kaufen wir ohnehin nichts mehr, ohne dass wir uns die Bewertungen im Detail angesehen haben. Aber was sind die Nebeneffekte dieses ständigen Bewertens? Ist es der Gesellschaft tatsächlich dienlich? Und gäbe es Alternativen?

Eine Welt jenseits der vereinfachenden Kategorisierungen "Geschafft oder durchgefallen": Wie wäre es, wenn wir das zum "System" erheben? Wenn wir erkennen, wie stark unser Verstand ständig einordnet in Schwarz oder Weiß, Nein oder Ja, gut oder schlecht? Wenn wir aufhörten, uns selbst durch diese Kategorisierungen zu limitieren?

Offenheit, Flexibilität und Wertschätzung anderer sind wichtige Tugenden, darüber besteht Einigkeit. Aber sind wir "anderem" gegenüber wirklich immer offen und bejahend? Oder stecken wir zu sehr in unserer Sozialisierung fest? Die Gesellschaft ist durchdrungen von Vorurteilen und Glaubenssätzen. Diese Muster gilt es zu überwinden.

Von Anfang an bewertet

Bereits in der Schule, dann an der Universität und später auch im Beruf sind wir ständig mit Bewertungen konfrontiert: Noten von 1 bis 5, die über Leistung Auskunft geben; Ausleseverfahren und Zielvorgaben, die die Leistung von Mitarbeitern beurteilen.

Die Eruierung von Schwächen gehört zur Methodik dieser Systeme, die eines völlig außer Acht lassen: unsere jeweiligen Talente und alles, was uns zutiefst begeistert. Wie konnte das passieren?

All diese Bewertungssysteme orientieren sich an den Ideen großer Denker wie René Descartes, Francis Bacon oder Isaac Newton, deren Gedankengut auf dem Erkennen und Vermitteln objektiver Fakten beruht. Ziel ist es, die Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen und somit zu einem besseren Verständnis der Umwelt zu gelangen. Es geht nicht um das Eingehen auf individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse, die schwer zu begreifen – und somit einzuordnen – sind.

Das führt dazu, dass Lernen in einem Kontext stattfindet, der an industrielle Produktionsstätten erinnert. Menschen sind Humanressourcen, die man möglichst passgenau für eine bestimmte Aufgabe auszubilden versucht. Lehrende sind "kompetente Analyseexperten", die das vermitteln, was durch Lehrpläne, Studienprüfungsordnungen und andere Vorgaben gerahmt wird.

Neue Arten des Lernens gefragt

Ganz im Sinne eines industriellen Systems fokussiert das Lernen auf die Heranbildung von "Human Doings" oder Humanressourcen, die Wissen zielgerichtet anwenden. Wir sehen den Menschen nicht als "Human Source", als unerschöpfliche Quelle von Kreativität und Innovation.

Wir befinden uns aktuell in einem gigantischen Umbruch. Die Welt ist "vuca" (volatile, uncertain, complex, ambiguous). Was heute gilt, ist morgen mit großer Wahrscheinlichkeit anders. Eine Krise jagt die andere. Die einzige Konstante ist die ständige Veränderung. Diese neue Ära erfordert eine neue Art des Lernens – von einer wissensbasierten Bildung hin zu einem weisheitsbildenden Ansatz. In dessen Zentrum steht das Individuum als Ganzes, das sich in seiner gesamten Vielschichtigkeit entwickeln soll. Ziel ist es, Menschen dazu zu befähigen, Potenziale zu erkennen und zu nutzen.

Lernen braucht in diesem Szenario viel Raum, eine "White Box", in der die Grenzen nicht definiert sind und keine Bewertung stattfindet. Dieser Lernraum sollte nicht nur auf die Wissensvermittlung ausgerichtet sein – sondern Stärken und Erfahrungen der Menschen in den Vordergrund rücken. Warten wir nun darauf, dass sich irgendwann die Bildungssysteme ändern, oder fängt jeder schon einmal bei sich selbst an?

Experiment selbst starten

Das Machtvolle am Lernen: Es ist ein individueller Prozess. Jeder kann es ständig tun. Es reicht, sich dafür zu entscheiden. Entscheiden wir uns dafür, aufzuhören mit den ständigen Bewertungen? Anerkennen und bejahen wir, was jeder Einzelne mitbringt, gestalten ein inspirierendes Miteinander?

Geben wir der Neugierde Raum. Neue Ansätze kann jeder von uns im Kleinen ausprobieren. Was passiert, wenn Sie das Experiment wagen und heute die Kategorisierung, das Liken versus Disliken, das Bewerten und "Schubladisieren" stoppen?

Reflektieren Sie über Ihre neuen Erfahrungen. Begegnen Sie offen dem, was auf Sie zukommt. So einfach geht Innovation. Dieser offene Prozess führt zur Selbsterkenntnis. Er führt dazu, dass sich die Menschen mehr trauen und zutrauen und täglich neue Perspektiven entdecken. (Kathrin Köster, Helga Pattart-Drexler, 8.1.2018)