Dieser Schuss ging daneben. Statt die Orang-Utan-Mutter zu treffen, dringt der Betäubungspfeil aus dem Blasrohr ihrem Baby in den Oberschenkel. Hoch in der Krone des Urwaldbaums klammern sich beide Tiere an die schwingenden Äste, mehr verärgert über die Störung als verängstigt. Eine Minute später, und das Baby fällt vom Baum – direkt in ein Tuch, das fünf Retter bereithalten. Während der Schütze das Blasrohr auf die Mutter anlegt, wird das benommene Jungtier von einem Tierarzt untersucht. Herzschlag, Atmung, Temperatur. "Es ist etwa zwei Jahre alt", meint der Veterinär, "alles okay".

Dann fällt auch die Mutter vom Baum. Ihre langen Arme und Beine sind schlaff von der Droge, ihre Augen aber hat sie weit geöffnet. "Es wird fünf Stunden dauern, bis die beiden wieder auf den Beinen sind", sagt Panut Hadisiswoyo, Gründer und Vorsitzender des Orang-Utan Information Centre (OIC). Der Mittvierziger trägt eine Atemschutzmaske. Eine Vorsichtsmaßnahme: Orang-Utans sind anfällig für fast alle Infektionskrankheiten, die von Menschen übertragen werden können. 97 Prozent ihrer Gene teilen sie mit der Gattung Homo sapiens.

Panut Hadisiswoyo, Gründer und Vorsitzender des Orang-Utan Information Centre, und sein Team retten rund 30 Orang-Utans pro Jahr.
Foto: Urs Wälterlin

Hadisiswoyo hält das Affenbaby in seinem Arm, als wenn es sein Kind wäre. Gut 30 Orang-Utans retten er und sein Team von 60 Helfern pro Jahr. Er mache diese Arbeit nicht wegen des Geldes – seine Organisation lebt ausschließlich von Spenden –, sondern aus einer tiefen Liebe zu den Tieren und der einzigartigen Umwelt, in der sie leben. "Wir entreißen sie nicht gerne der Natur", erklärt der Aktivist einer Gruppe indonesischer Journalisten. "Aber es ist die einzige Möglichkeit, Orang-Utans zu retten."

Hadisiswoyo und seine Mannschaft stehen in einer Plantage von Ölpalmen, rund drei Stunden nördlich der Stadt Medan auf der indonesischen Insel Sumatra. Die Affenmutter und ihr Kind haben sich aus dem Dickicht des benachbarten Urwalds in die Anlage verirrt. Eine potenziell tödliche Situation. Für die Bauern der Umgebung seien die Tiere "wertlose Schädlinge", die man am besten abschieße. "Zwar sind Menschenaffen streng geschützt. Es wurde aber noch nie jemand dafür verurteilt, dass er einen Orang-Utan tötet", erzählt Hadisiswoyo.

Keine Chance für Erwachsene

Erwachsene Affen haben überhaupt keine Chance. "Die werden einfach abgeknallt, niedergestochen, verbrannt." Ein Baby dagegen könnten die Bauern verkaufen, als Haustier. Etwa 350 Euro würden sie vom Zwischenhändler erhalten, sagt Hadisiswoyo, ein Vermögen in dieser Gegend, wo arme Familien von 200 Euro im Jahr lebten. "Im illegalen, länderübergreifenden Weiterverkauf, etwa an einen reichen Scheich im Nahen Osten, steigt der Preis auf tausende, ja zehntausende Euro." Die meisten gewilderten Tiere würden aber in den Gärten wohlhabender Indonesier dahinvegetieren, erzählt Hadisiswoyo, unter horrenden Lebensbedingungen. "Wir haben Affen gerettet, die 20 Jahre in einem Käfig lebten, der kaum größer war als sie selbst."

Vom Aussterben bedroht

Sumatra Orang-Utans (Pongo abelii) sind akut vom Aussterben bedroht: Nur noch etwa 7.500 Tiere leben in Freiheit, vorwiegend im Leuser-Ökosystem, einem von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärten Urwaldgebiet im Zentrum von Sumatra. Mit 2,6 Millionen Hektar ist es die letzte Region auf dem Globus, wo man noch gleichzeitig die Menschenaffen, Elefanten, Tiger und Großwild auf vergleichsweise kleinem Raum sehen kann. Wie Metastasen eines aggressiven Krebstumors fressen sich die Plantagen tief in den Regenwald, in Gebiete, die jahrtausendelang kaum von Menschenhand berührt worden waren.

In einer speziellen Kiste werden die Affen umgesiedelt.
Foto: Urs Wälterlin

Die Affenretter haben die Tiere in einer speziell gebauten Kiste gesichert und diese auf der Ladefläche eines Allradfahrzeugs fixiert. Obwohl benommen, schaut die Mutter durch ein Gitter direkt in die Augen der Menschen, die sie beobachten. Die zu hohe Dosis des Schlafmittels verursache dem Jungtier keine Schäden, versichert der Tierarzt. "Es wird in ein paar Stunden aufwachen und fröhlich davonspringen." Dann geht die Fahrt los zurück in die Wildnis. Zum Ort, wo die Affen ausgesetzt werden sollen.

Ölpalme als Goldesel

Kilometer um Kilometer Ölpalmen auf beiden Seiten der Straße – Hektar um Hektar, wo noch vor wenigen Jahren unberührter Regenwald stand. Als Zierpflanze eingeführt aus Afrika, haben sich die Palme (Elaeis guineensis) und ihr Produkt für Indonesien und Malaysia zu einem Goldesel entwickelt. Die beiden Länder produzieren 85 Prozent des weltweit konsumierten Palmöls, Indonesien ist Weltmarktführer. Die Palme gedeiht hervorragend im tropischen Klima, ihre Frucht – Klumpen roter Palmnüsse, die unter den Kronen hängen – lässt sich mit geringem Arbeitsaufwand ernten und verarbeiten. Das Endprodukt ist weitaus billiger als vergleichbare Öle.

Leicht zu ernten und zu verarbeiten: die Frucht der Ölpalmen.
Foto: Urs Wälterlin

So wurde das goldgelbe Palmöl in nur wenigen Jahren zum Schmiermittel der globalen Lebensmittel- und Kosmetikindustrie. Laut Bloomberg verdoppelte sich der weltweite Konsum seit 2000 auf jährlich 7,7 Kilogramm pro Person. Palmöl ist überall: in Pizzateig, in Schokoriegeln, in Brotaufstrichen wie Nutella. Der Hersteller Ferrero bestätigt, dass Palmöl die zweitwichtigste Zutat der braunen Paste ist – nach Zucker.

Ein wesentlicher Grund für die Beliebtheit von Palmöl sind seine einzigartigen Eigenschaften: Es kann der Oxidation besser widerstehen als andere Öle, auch in wärmeren Klimazonen. Das erlaubt die längere Lagerung von Lebensmitteln. Es ist ein perfektes Bratöl, da es sich hoch erhitzen lässt, ohne an Qualität zu verlieren. Selbst in Seife, Lippenstiften und vielen anderen Kosmetikartikeln und Pharmazeutika werden aus Palmöl gewonnene Fettsäuren verwendet. Einen geradezu kometenhaften Aufstieg hatte das Öl als "Biotreibstoff", als vermeintlich umweltfreundliche Alternative zu Benzin und Diesel. Dabei verdient kaum ein Produkt das Label "Bio" so wenig. Eine Studie der Rainforest Foundation Norway (RFN) kommt zu dem Schluss, dass Treibstoffe aus Palmöl wegen des destruktiven Herstellungsprozesses "schädlicher als fossile Brennstoffe" sind. Vor kurzem hat Norwegen die Verwendung solcher Treibstoffe in Regierungsfahrzeugen verboten.

"Ziel ist die Rückführung in die Natur."

Ian Singleton greift durch das Gitter und reicht dem massiven Menschenaffen "Leuser" ein paar grüne Zweige. Im Quarantänezentrum der Organisation Sumatran Orangutan Conservation Programme (SOCP) im Hinterland von Medan werden Tiere gehalten, wenn sie nach ihrer Rettung nicht sofort in die Wildnis entlassen werden können. Die von Singleton geführte Anlage wurde von der Schweizer Organisation Pan Eco ins Leben gerufen. Der Brite gilt als weltweit führender Orang-Utan-Experte. Dutzende Tiere hausen in großen Stahlkäfigen mitten im Urwald. Eine Gruppe von Wärtern füttert die Affen, pflegt sie bei Krankheit, versorgt ihre Wunden. "Ziel ist die Rückführung in die Natur", sagt Singleton, ein Mann, besessen von einer Aufgabe, die er nicht als Job empfindet, sondern als Mission.

Die Station in der Nähe von Medan beherbergt dutzende Affen. Ihr genauer Standort ist geheim.
Foto: Urs Wälterlin

Die Anlage ist auch ein Heim für Affen, für die es keine Hoffnung auf Freilassung mehr gibt. Wie "Leuser". Das Tier ist nach Schüssen aus dem Schrotgewehr eines Farmers blind. Die genaue Lage der Station ist geheim. "Besucher könnten Krankheiten einschleppen", sagt Singleton. Nur selten würden Ausnahmen gemacht. Letztes Jahr war Leonardo DiCaprio da, um einen Film zu drehen. Der Schauspieler ist ein engagierter Umweltschützer. Das einzigartige Leuser-Ökosystem brauche jede erdenkliche Hilfe, sagt Singleton, "denn was hier abläuft, ist ein Holocaust an der Natur". Er nimmt dieses Wort nicht leichtfertig in den Mund.

Ian Singleton führt das Quarantänezentrum des Sumatran Orangutan Conservation Programme im Hinterland von Medan und kümmert sich um Orang-Utans, die nicht gleich wieder ausgesetzt werden können.
Foto: Urs Wälterlin

Palmöl sei ein Produkt der verbrannten Erde. "Farmer und Firmen roden erst den Urwald. Dann verbrennen sie alles. Der vor der Zerstörung biologisch vielfältige Boden ist danach buchstäblich steril. Es gibt keine Lebewesen mehr." Ob auf der Insel Borneo, auf dem Festland von Malaysia, Sumatra oder sonst wo in Indonesien: Trotz klarer Verbote werden in den Wäldern Südostasiens jedes Jahr tausende Hektar Land illegal abgeholzt. Auf Sumatra konzentriert sich die Industrie auf die ausgedehnten Torflandschaften im Unterland des sonst gebirgigen Leuser-Systems. Genau dort, wo die Menschenaffen leben.

Folgen für das Weltklima

Torflandschaften sind auch wichtige Speicher von CO2. Ihre Zerstörung hat nicht nur für die unmittelbar betroffenen Tiere und Pflanzen fatale Folgen, sondern auch für das Weltklima. "Tropische Torflandschaften in Indonesien und Malaysia speichern etwa 70 Gigatonnen Kohlenstoff", schreibt die norwegische RFN. "Wenn all das freigegeben würde, entspricht das etwa sieben Jahren globaler CO2-Emissionen." Ein weiteres Problem sei die Entwässerung des Bodens – notwendig, damit die Palmen rasch wachsen und schnell Gewinn bringen. Durch die Austrocknung wird das Land leicht brennbar. Geraten tausende Quadratkilometer Urwald in Brand, wird Rauchverschmutzung zur länderübergreifenden Katastrophe. 2015 lagen Teile von Malaysia, Indonesien und Singapur wochenlang unter einer Rauchdecke. Die Rodungsfeuer sollen den vorzeitigen Tod von mehr als 100.000 Menschen verursacht haben.

Palmölplantagen werden meist illegal angelegt.
Foto: Urs Wälterlin

Hadisiswoyo wechselt sein T-Shirt. Statt des Logos seiner Organisation zeigt es den Namen einer amerikanischen Cola-Marke. "Man darf mich nicht erkennen", flüstert der Aktivist, als er aus dem Urwald in eine riesige Lichtung tritt, mehrere hundert Hektar mit Gartenbeeten. Gemüse, Früchten, Bananen und Orangen – dazwischen mit Stroh bedeckte Hütten. "Alles illegal", erklärt er. Eines Tages seien die Bagger und Kettensägen gekommen und hätten "alles abgeholzt. Dann wurden Ölpalmen gepflanzt und Gärten angelegt." Das geschehe jeden Tag – hunderte Hektar Urwald pro Jahr würden auf diese Art fallen. "Niemand unternimmt etwas dagegen, schon gar nicht der Staat."

Korruption und Vetternwirtschaft sind endemisch in Indonesien. Häufig sind regionale Offizielle Nutznießer des Raubbaus. Politiker, Beamte, Polizisten.

Wachsender Druck von Kritikern

Die Palmölindustrie, unter wachsendem Druck von Kritikern, weist gerne darauf hin, dass vor allem Kleinbauern vom Anbau profitierten. "Das ist kompletter Unsinn", sagt Hadisiswoyo. "Die meisten Plantagen hier gehören wohlhabenden Unternehmern in den Großstädten." Diese wiederum verkauften ihr Produkt an Firmen, die ganz oder teilweise von einigen der reichsten Familien im Land kontrolliert würden. Laut "Forbes" hatten die 40 wohlhabendsten Indonesier 2012 ein Gesamtvermögen von 88,6 Milliarden US-Dollar (74,5 Milliarden Euro). Neun der Ultrareichen häuften ihren Wohlstand zumindest teilweise mit der Herstellung von Palmöl an. Ein Indiz dafür, dass Palmölplantagen die Armen in den betroffenen Gebieten sogar benachteiligen, wie Umweltverbände sagen: Ein Baum saugt pro Tag 15 Liter Wasser aus dem Boden. Dadurch sinke der Grundwasserspiegel, erklärt Hadisiswoyo. "Viele Dörfer müssen heute aus dem Tanklaster mit Wasser versorgt werden."

Der Aktivist führt ein gefährliches Leben. "Ich habe viele Feinde", sagt er, als er und seine Helfer ein mit Gemüse und Orangenbäumen bepflanztes Feld am Rand einer 500 Hektar großen illegalen Ölplantage entlanggehen. "Die gehört einem Geschäftsmann aus Medan." Man gehe in Sumatra nicht sanft um mit Umweltaktivisten, die sich in den wichtigsten Wirtschaftsbereich einmischen. Neben der Rettung von Oran-Utans identifizieren Hadisiswoyo und seine Mitarbeiter illegale Plantagen sowie "gestohlenes Land, das gerodet wurde und auf dem die Bauern dann Gärten anlegen", erklärt er. Solche Agrargebiete sind Ausgangspunkt für weitere Rodungen.

"Der Urwald kommt zurück. Die Natur holt sich, was ihr gehört."

Hadisiswoyo zwingt die Landbesetzer, die Grundstücke aufzugeben. Die Behörden seien dabei nur unter großem Druck eine Hilfe. Die Siedler erhalten ein Ultimatum. Sie könnten noch eine gewisse Zeit bleiben und ihre Feldfrüchte ernten, solange sie sich verpflichten, danach zu verschwinden. Dann wird das Gebiet mit Urwaldvegetation bepflanzt. "Das ist die gute Nachricht", erklärt Hadisiswoyo. "Der Urwald kommt zurück. Die Natur holt sich, was ihr gehört." Hadisiswoyo macht klar, dass er nichts gegen Palmöl habe, nur gegen die Art, wie es produziert werde. "Die Industrie könnte sich problemlos auf bestehende Flächen konzentrieren. Es gibt genügend freies, minderwertiges Agrarland." So ist er auch gegen den Boykott von Palmöl, den verschiedene Umweltschützer fordern. "Aber es muss aus nachhaltigem Anbau kommen."

Das Orang-Utan-Baby und seine Mutter werden am Rand des Dschungels wieder ausgesetzt.
Foto: Urs Wälterlin

Das Rettungsteam ist am Ziel, eine Lichtung am Rand des Dschungels. Es ist harte Arbeit, die Kiste durch das Dickicht zu tragen, in der feuchten Hitze. Mutter und Kind haben sich gut erholt von ihrer Beinahenarkose. Als Hadisiswoyo die Tür der Kiste öffnet, klettert das Muttertier in Sekundenschnelle auf einen Baum. Das Baby folgt ihr. In der Krone eines 20 Meter hohen Urwaldriesen schwingen sie sich von einem Ast zum andern. Dann – überraschend – halten sich die beiden Tiere an Lianen fest, drehen sie sich um und schauen nach unten. Für ein paar Sekunden scheint es, als wollten sie sich von ihren Rettern verabschieden. Einen Augenblick später greifen die Affen nach den Ästen des Nachbarbaums und angeln sich hoch. Dann sind sie im Dickicht des Dschungels verschwunden. (Urs Wälterlin, 8.1.2018)