Das deutsche Vorbild ist unbeliebt, deshalb wird in Österreich entschieden bestritten, dass man sich an Hartz IV orientiere.
Foto: Heidi Seywald

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"Hartz IV wird es bei mir nicht geben." Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) wird nicht müde zu betonen, dass man sich bei der Reform des heimischen Arbeitslosengeldes nicht am deutschen Nachbarn orientieren werde. Genau das befürchten aber die Gegner einer Änderung, seit sich im türkis-blauen Regierungsprogramm der Plan findet, die Notstandshilfe abzuschaffen und im Arbeitslosengeld neu aufgehen zu lassen.

Die Ausgangslage: Hintergrund des Vorhabens sind die in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Arbeitslosenzahlen, erst seit einigen Monaten gibt es einen gegenläufigen Trend. Wie berichtet ist allein die Zahl der Notstandshilfebezieher seit 2010 von 98.000 auf 167.000 im Jahr 2016 gestiegen. Die Arbeitslosenquote ist im gleichen Zeitraum von 4,8 Prozent auf 6,0 Prozent gestiegen (siehe Grafik). In Deutschland gab es den genau gegenteiligen Trend.

Krise oder fehlende Anreize: Die politische Diskussion, die dahintersteht, lautet nun: Geht der Anstieg in Österreich nur auf die schlechte Konjunktur in den Jahren nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zurück, oder bestehen auch zu wenige Anreize, sich Arbeit zu suchen? Wirtschaftsvertreter verweisen gerne darauf, es sei etwa im Tourismus schwierig, Personal zu finden.

Zuletzt beklagten aber auch andere Branchen, man finde keine Mitarbeiter, die sogenannte Mangelberufsliste wurde deutlich ausgeweitet. Für Berufe, die auf dieser Liste stehen, dürfen sich die Arbeitgeber Fachkräfte aus Drittstaaten suchen. Auf der anderen Seite zeigen Analysen aber auch immer wieder, dass die Firmen grosso modo nicht lange suchen müssen. So können 95 Prozent aller offenen Stellen binnen drei Monaten besetzt werden, wie eine AMS-Auswertung im Vorjahr zeigte. Nach fünf Monaten sind es sogar 99,9 Prozent der gemeldeten Stellen.

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Für die einen ist Peter Hartz ein Held, die anderen machen seine Ideen für mehr Armut verantwortlich. Fest steht, der ehemalige VW-Personalvorstand und Namensgeber der deutschen Arbeitsmarktreformen hat das Sozialsystem in seinem Land umgekrempelt.

Die Ausgangslage: Das größte Problem für Europa ist, wie man die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine kriegt, schrieb der "Economist" im Jahr 1999. Noch 2005 firmierte die Bundesrepublik als Problemfall in Europa. Selbst in Westdeutschland kletterte die Arbeitslosigkeit über die Zehn-Prozent-Marke, im Osten lag sie sogar über 20 Prozent. Mehr als 1,8 Millionen Deutsche erhielten 2004 Arbeitslosengeld.

Weitere zwei Millionen waren auf die Folgeleistung, die Arbeitslosenhilfe, angewiesen. Dieses System schuf eine Parallelwelt zwischen Personen, die gearbeitet haben, und Menschen, die nie Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten. Denn weitere rund zweieinhalb Millionen Sozialhilfeempfänger waren nicht im Fokus einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Getrennte Zuständigkeiten: Sowohl der Bund als auch die Kommunen haben Geldleistungen an Sozialhilfebezieher ausbezahlt. Der Datenaustausch zwischen den Gebietskörperschaften war unzureichend.

Die politische Antwort auf die prekäre Lage kam in Form der in den Jahren 2003 bis 2005 umgesetzten "Agenda 2010" der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder – Hartz IV ist wohl die bekannteste und sicherlich berüchtigste Maßnahme.

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Der Koalitionspakt: Die Regierung sieht aber offenbar Handlungsbedarf, Beschäftigungsanreize sollen verstärkt, "Inaktivitätsfallen beseitigt werden", wie es heißt. Erreicht werden soll das durch ein im Zeitverlauf absinkendes Arbeitslosengeld. Ein solches hat auch AMS-Chef Johannes Kopf immer wieder vorgeschlagen. Rund um Einkommenssprünge sei die Jobaufnahme höher, so das Argument.

Wie berichtet liegt Österreich im internationalen Vergleich bei den Leistungen für Langzeitarbeitslose tatsächlich im Spitzenfeld, in der ersten Phase zahlt man dafür relativ wenig. Geplant ist auch, die den Arbeitslosen zumutbaren Wegzeiten von eineinhalb auf zwei Stunden auszuweiten und den Berufsschutz "in Richtung stärkerer Arbeitsanreize" zu reformieren. Konkretes dazu findet sich im Regierungsprogramm aber nicht.

Drei Schienen: Derzeit gibt es in Österreich drei Schienen der Absicherung. Zunächst das Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung. Die Ansprüche variieren nach Alter und Anzahl der Versicherungsmonate.

Im Anschluss kann, theoretisch bis zur Pension, die etwas niedrigere Notstandshilfe beantragt werden, die ebenfalls eine Versicherungsleistung ist. Und schließlich gibt es noch die Mindestsicherung, die grundsätzlich allen offensteht.

Für sie sind die Länder zuständig, daher variieren die Leistungen. Der Datenaustausch mit dem AMS ist seit jeher ein Problem, wie dessen Experten mehrfach beklagten.

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Die Hartz-Reform: Seit 2005 gibt es in Deutschland ein Arbeitslosengeld I, das in der Regel zwölf Monate, bei Älteren bis zu zwei Jahre bezahlt wird. Voraussetzung ist, dass man zumindest zwölf Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Im Schnitt ist das Arbeitslosengeld I höher als in Österreich, laut OECD-Daten kommen die Bezieher auf knapp 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens.

Wer dann noch keinen Job hat, kann das Arbeitslosengeld II beantragen, das die Sozialhilfe ersetzt hat. Es ist keine Versicherungsleistung, sondern eine steuerfinanzierte Versorgungsleistung.

Es gibt verschiedene Regelsätze für unterschiedliche Gruppen. Für Alleinstehende liegt er 2018 bei 423 Euro, für Jugendliche von 14 bis 18 gibt es 321 Euro. Zusätzlich werden aber von den Kommunen die Kosten für angemessene Unterkunft und Heizung übernommen.

Die Vermögensfreigrenzen sind nach Alter gestaffelt. Der Mindestfreibetrag liegt bei 3.100 Euro, bei Älteren steigt er auf rund 10.000 Euro. Zum Vergleich: Bei der Mindestsicherung in Österreich muss Vermögen bis auf rund 4.200 Euro aufgebraucht werden. Ein Auto bzw. eine angemessene Eigentumswohnung ist, wie auch in der Mindestsicherung, bei der Vermögensanrechnung ausgenommen. Allerdings kontrollieren die Deutschen genauer: Behörden dürfen Einsicht in Konten nehmen, in Österreich geht das nicht.

Bezieher von Arbeitslosengeld II müssen grundsätzlich auch jede Art von Arbeit annehmen, zu der sie in der Lage sind – auch sogenannte Minijobs. Die Zumutbarkeitsbestimmungen sind also in Deutschland strenger als in Österreich.

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Die Folgen: Wie stark sich Österreich nun an Deutschland annähern wird und wie genau mit den bisherigen Notstandshilfebeziehern künftig umgegangen werden soll, ist mangels konkreter Entwürfe noch unklar. Hartinger hat mehrfach betont, bei Langzeitarbeitslosen auch in Zukunft nicht auf das Vermögen zugreifen zu wollen (bei der Mindestsicherung ist das bis auf eine Freigrenze von 4.200 Euro der Fall).

Eine Studie im Auftrag des Finanzministeriums zeigte im Vorjahr jedenfalls, dass eine Überführung der Notstandshilfe in eine Mindestsicherung nach Hartz-IV-Vorbild im Schnitt zu jährlichen Einbußen von 1.300 Euro pro Bezieher führen würde. Bei strengen Vermögenstests würden die Einbußen auf bis zu 2.300 Euro steigen. Für die Autoren ist aber auch klar: Die Armutsgefährdung würde in Österreich steigen. Dazu kommen gesellschaftliche Folgekosten, die aufgrund eines Anstiegs der Armut entstehen. Zahlen dazu gibt es allerdings nicht.

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Die Folgen: Unbeeindruckt von der Finanzkrise 2008 sank die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach Einführung der Hartz-Reformen auf nunmehr rund vier Prozent. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ging zurück (siehe Grafik). Experten sind sich jedoch uneinig, welche Rolle Hartz IV dabei gespielt hat. Viele Ökonomen verweisen auf die gute Konjunktur vor 2009 sowie die deutsche Exportstärke dank des Booms in den Schwellenländern.

Fest steht, die Parallelwelt im Sozialbereich ist verschwunden: Der ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise resümierte später, dass dank Hartz IV in vielen Kommunen bis zu 90 Prozent der Sozialhilfeempfänger als erwerbsfähig identifiziert wurden. Dazu hätte aber die Systemumstellung ausgereicht. Wie effektiv die Verschärfungen bei der Zumutbarkeit waren, ist noch umstrittener. Denn die Zahl der Working Poor in Deutschland ist heute doppelt so hoch wie vor der Reform, als viele der Betroffene einfach als "poor" galten. (Günther Oswald, Leopold Stefan, 9.1.2018)