Wien – Es ist Montag, 5.40 Uhr. Wieder einmal beginnt für Tom (Name von der Redaktion geändert) eine Arbeitswoche. Eilig fischt er sich seine Kleider vom Wäscheständer, die er am Abend davor noch zum Trocknen aufgehängt hat. Eltern, die ihrem Sohn im Morgengrauen einen warmen Kakao mit Milchschaum zaubern, hat er nicht.

So wie seine Kleider und sein Frühstück muss Tom sein ganzes Leben selbstständig organisieren. Während viele Altersgenossen ihre pubertären Allüren in vollen Zügen genießen, erlebt der 16-Jährige gerade, was es heißt, für sich selbst verantwortlich zu sein.

Volljährigkeit als finanzielle Zäsur

Tom ist "in Fremdunterbringung", wie es im Behördendeutsch heißt. Aus der Wohngemeinschaft im SOS-Kinderdorf ist er kürzlich ausgezogen. Jetzt wohnt er in einer eigenen Wohnung, die im Rahmen der Jugendhilfe finanziert wird.

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Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern aufwachsen, müssen mit 18 auf eigenen Beinen stehen – das setze viele unter Druck, sagen Betreuer.
Foto: dpa/Patrick Pleul

Der schlanke Jugendliche mit den blonden Haaren hat seine Kindheit im SOS-Kinderdorf verbracht – größtenteils zusammen mit anderen Kindern, die bei ihren Eltern nicht mehr wohnen konnten. In zwei Jahren wird er volljährig sein. Bis dahin sollte er gelernt haben, wie man im Leben selbst zurechtkommt. Ob er nach der Volljährigkeit noch von der Jugendhilfe gestützt wird, hängt vom guten Willen des Jugendamts ab. Per Gesetz gilt Tom mit 18 als Erwachsener und muss dann selbst schauen, wo er bleibt.

Lehre zum Kfz-Mechaniker

Noch kommt für Tom das Land Wien auf. Seine "Bezugsperson" Evelyne Balcarek hilft ihm im Alltag. Sie ist angestellte Sozialarbeiterin beim SOS-Kinderdorf. Wie man sein Geld einteilt, Behördenwege erledigt und sich beim Chef krank meldet, in diesen Fragen greift Balcarek ihrem Schützling noch unter die Arme.

Balcarek ist immer von acht Uhr früh bis acht Uhr abends für "ihre" Kinder erreichbar. Letzte Woche war Tom krank. Zum Arzt begleiten, Tee kochen, Medikamente besorgen: Solche Dinge erledigt Balcarek dann für Tom. Doch nachts ist der Jugendliche auf sich gestellt, auch wenn er krank ist.

Um 6.15 Uhr verlässt Tom montags bis freitags das Haus, damit er pünktlich um 7.15 Uhr am anderen Ende der Stadt seinen Dienst antreten kann. Er macht eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. "Die Arbeit ist mehr Spaß als Anstrengung", erzählt er. Autos servicieren, Pickerl machen und Reifen wechseln, das alles lernt er gerade.

Besonders interessiert sich Tom für die Funktionen des Bordcomputers in modernen Autos. Zusätzlich wird er sich daher im Spezialmodul Systemelektronik ausbilden lassen. Das Zusatzmodul beschert ihm ein viertes Lehrjahr. Eines Tages selbst im eigenen Mercedes oder – noch besser – McLaren durch die Straßen von Wien cruisen zu dürfen, das ist sein großer Traum. Doch bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor ihm.

Sozialarbeiter des SOS-Kinderdorfs erzählen, was die Volljährigkeit für Jugendliche in Fremdunterbringung bedeutet.
DER STANDARD

Keine unbeschwerte Jugend

Als Tom klein war, haben seine Betreuer schon damit begonnen, Monat für Monat einen kleinen Betrag anzusparen. Das Geld soll ihm ermöglichen, die Kaution für seine erste eigene Wohnung zu hinterlegen und Wohnungseinrichtung zu kaufen. Idealerweise bleibt vom Ersparten auch noch ein kleiner Polster übrig, um die ersten Monatsmieten zu bezahlen.

Dass er sein Leben mit 18 schon zur Gänze selbst finanzieren muss, darüber will sich Tom jetzt keine Sorgen machen. Läuft alles wie geplant, stehen die Chancen gut, dass die Unterstützung bis zu seinem 21. Geburtstag weiterläuft. Das aber hängt vom guten Willen der Behörde ab. Eine Schulkarriere oder Lehre ohne große Turbulenzen erhöht die Chancen, dass der zuständige Beamte oder die zuständige Beamtin zu seinen Gunsten entscheidet. Sein Glück: Er lebt in Wien, da sei man sehr kulant bei der Unterstützung, erzählt Dieter Schrattenholzer, Leiter der Einrichtung im SOS-Kinderdorf.

Fehler nicht erlaubt

"Das Schwierige bei unseren Jugendlichen ist, dass sie sich kaum Fehler erlauben können. Dass sie nicht die normalen Blödsinnigkeiten machen können, ohne immer wieder über die Konsequenz nachzudenken, ob es zu einer Verlängerung der finanziellen Unterstützung kommt", sagt Balcarek. Der Druck sei kontraproduktiv für die Entwicklung. "Es gehört dazu, dass man Fehler macht."

Kinder in der Fremdunterbringung seien gehemmt durch die Sicht des Staates auf die Volljährigkeit, sagt Schrattenholzer. "Ein junger Erwachsener in der Fremdunterbringung muss darüber nachdenken, ob ein Schul- oder Lehrstellenwechsel das Ende der Kinder- und Jugendhilfemaßnahme bei Erreichen der Volljährigkeit mit sich bringt." Denn: Einen Rechtsanspruch darauf gibt es nicht.

Für junge Erwachsene ohne elterliche Hilfe, die auch kein Geld von der Jugendwohlfahrt mehr bekommen und selbst noch nicht genug zum Leben verdienen, bleibt die Möglichkeit, um Mindestsicherung anzusuchen. Vielfach scheitern sie allerdings am komplizierten Behördenweg. Viele wollen auch nicht als "Sozialfall" gelten und scheuen davor zurück, um Mindestsicherung anzusuchen. Etwaige Ersparnisse müssen zudem aufgebraucht werden. Wer etwa in Wien Mindestsicherung beziehen will, darf nicht mehr als 4.188,80 Euro auf der hohen Kante haben.

Mehr als 300.000 über 25-Jährige bei Eltern

Österreichweit wurden im Jahr 2016 insgesamt 1.003 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 21 Jahren mit ambulanten Hilfen und 1.864 derselben Altersgruppe mit stationären Angeboten weiter von der Kinder- und Jugendhilfe unterstützt. Die Zahl der betreuten jungen Erwachsenen hat damit gegenüber dem Jahr davor um rund neun Prozent zugenommen. Zum Vergleich: 742.000 "Kinder" über 19 lebten im Jahr 2016 noch bei ihrer Mutter und/oder ihrem Vater. 144.000 davon waren 25 bis 29 Jahre alt, 179.000 waren 30 Jahre und älter.

In der vergangenen Legislaturperiode versuchten die Grünen einen gesetzlichen Anspruch auf Verlängerung der Jugendhilfe-Leistungen für junge Erwachsene zu erwirken. Mit dem Verweis darauf, dass die Abwicklung der Kinder- und Jugendhilfe Ländersache sei, blieb die Forderung ohne Konsequenzen. Auch die aktuelle Familienministerin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) lässt auf Anfrage des STANDARD ausrichten: Ausführung und Vollziehung des Gesetzes obliegen den Bundesländern.

Und Tom? Um 16.15 Uhr endet sein Arbeitstag. Dann fährt er nach Hause. Oft kommen Freunde am Nachmittag vorbei. Sie machen dann das, was andere Jugendliche auch machen: Fußball oder Computer spielen. An guten Tagen kocht er Schnitzel. Und beim Abwaschen müssen dann alle Freunde zusammenhelfen. (Katrin Burgstaller, 16.1.2018)