Die Polizistin Sandrine Leroy (Hélène Fillières) konnte nur Maya (Ella Brunetto) heil nach Hause bringen.

Foto: Pampa Productions

Die zehnjährige Aurore (Mélody Gualteros) und ihre Mutter (Sigrid Bouaziz) haben ein schwieriges Verhältnis zueinander.

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Wien – Aurore hat Hunger. Der Kühlschrank ist leer, die Mutter hat andere Sorgen. "Nicht daran denken", rät Aurores Freund Chris. Auf dem Spielplatz treffen die zwei Paul aus der Nachbarschaft. Paul hat Kekse. Aurore sagt: "Gib mir die Kekse, ich hab Hunger." Aber Paul denkt überhaupt nicht daran, also lockt sie den Buben in eine aufgelassene Fabrik. Aurore will diese Kekse unbedingt.

Die Situation eskaliert, am Ende hat Aurore die Kekse für sich, aber zu gleicher Zeit ihre eigene Kindheit und die von Pauls Schwester Maya verwirkt. Die Kleine wurde Zeugin des Ganzen und ist spurlos verschwunden: Ausgangssituation der französischen Serie "Ein Engel verschwindet" am Donnerstag um 20.15 Uhr auf Arte.

Auf der Strecke gebliebenen Existenzen

Wie wird ein Kind zum Mörder? Angeboren? Anerzogen? Die Eltern? Geschwister? Falsche Freunde? Von allem etwas, spricht aus diesem Dreiteiler der französischen Autorenfilmerin Laetitia Masson, jedenfalls die Umstände, eine Welt, in der Erwachsene im System der allein selig machenden Erwerbstätigkeit unter die Räder kommen und ihre Kinder daneben verwahrlosen und verhungern.

Die auf der Strecke gebliebenen Existenzen stehen im Zentrum von Massons Interesse, die sich nach preisgekrönten Spielfilmen wie "Haben (oder nicht)" und "Zu verkaufen" mit "Ein Engel verschwindet" erstmals in Serienlänge einem Sozialthema annähert.

Dass es ganz schlecht endet

Das Schweigen Aurores gibt den Erwachsenen um sie herum Rätsel auf. "Ich wusste es", sagt die Mutter. "Dass es ganz schlecht endet." Vor allem die Polizistin Sandrine Leroy (Hélène Fillières) tut sich schwer mit Verständnis: "Es leben viele Kinder wie sie", sagt sie. "Ein sehr seltsames Kind."

Schuldig sind sie alle, nicht nur die kleine Mörderin. Es ist nicht leicht, gut zu sein. Masson bezieht sich auf eine reale Begebenheit, lässt sich aber ebenso von großen Werken der Weltliteratur leiten: "Große Erwartungen" von Dickens und "Manchester by the Sea" von Kenneth Lonergan dringen durch.

Gespenster von früher

Die drei Teile folgen zwei Erzählsträngen. Zuerst geht es um die Tat der kleinen Aurore mit Mélody Gualteros in der Hauptrolle. Die Teile zwei und drei setzen zwanzig Jahre später fort, als plötzlich die Gespenster der Vergangenheit die Täterin in Marseille wieder einholen. In grenzenlosem Hass wuchs Pauls Schwester Maya auf: Sie will sich rächen. Versöhnung am Ende scheint zunächst keine Option.

Es gehe darum, die beteiligten Personen zu verstehen, "zu begreifen, warum sie stolpern und scheitern – und zu überlegen, wie sich das vermeiden ließe", sagt Masson. (Doris Priesching, 11.1.2018)