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Social Media fest im Blick: In den sozialen Medien entstehen Gruppen, die sich im Inneren gut verstehen, nach außen aber abgrenzen.

Foto: REUTERS/FABRIZIO BENSCH

Ist es nicht großartig, wie Facebook, Twitter und all die anderen Plauder-Plattformen Raum und Zeit überwinden? Wir können jederzeit und überall mit Freunden (Pardon: "friends") in New York, Schanghai oder Potzneusiedl kommunizieren, die ganze Welt ist ein Nachbarschaftscafé geworden, in dem alle am selben Tisch sitzen.

Na ja, nicht ganz. Bei genauem Hinsehen sind es viele kleine Tischrunden, und sie rücken sogar immer weiter voneinander ab. Stimmt schon, dass die Digitalisierung neue Verbindungen schafft, bisher undenkbare Vernetzungen ermöglicht und bei der Planung des Familienalltags ebenso hilft wie beim Organisieren von politischen Initiativen. Doch mindestens ebenso stark ist ihre entzweiende Kraft. In den sozialen Medien entstehen Gruppen, die sich im Inneren gut verstehen, nach außen aber abgrenzen. Wenn einmal ein Posting eines Andersdenkenden in eine solche Echokammer eindringt, löst es Abwehrreaktionen aus, die in ihrer emotionalen Heftigkeit fast schon an Stammesfehden erinnern.

Allenthalben Konflikte

Soziale Medien als Faktor für das Auseinanderdriften der Gesellschaft: Das ist einer der Befunde der Arena-Analyse 2018 – "Wir und die anderen". Diese Studie, die das Beratungsunternehmen Kovar & Partners jedes Jahr in Kooperation mit STANDARD und Zeit durchführt, versucht Entwicklungen aufzuspüren, die in unmittelbarer Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden. Dass gesellschaftlicher Zusammenhalt schwindet, ist in den Augen des beteiligten Experten-Panels eine der größ- ten aktuellen Herausforderungen. Das Phänomen hat viele Gesichter – die drohende Desintegration der EU, der Zerfall von Nationalstaaten mit separatistischen Regionen, Konflikte zwischen Stadt und Land oder Peripherie und Zentrum, wachsende Verständnislosigkeit zwischen Gruppen mit ethnisch oder kulturell unterschiedlichem Hintergrund.

Einer der stärksten Treiber der beunruhigenden Entfremdung ist die Digitalisierung mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf die Arbeits- und die Lebenswelten. Man muss gar nicht erst den pessimistischen Prognosen Glauben schenken, wonach Rechner und Roboter zwei Drittel der Menschheit arbeitslos machen werden. Aber dass es bald keine Lagerarbeiter mehr und kaum noch Supermarktkassiererinnen geben wird, dass der klassische Typ des Bank- und Versicherungsangestellten verschwindet und auch die Lkws demnächst ohne Fahrer rollen werden – das ist für fast jedermann offensichtlich. Selbst wenn mehr neue Berufsfelder entstehen, als alte verschwinden, wird das bedeuten, dass immer mehr Menschen aus einem Job gerissen werden, in dem sie gut waren, und sich in einem neuen zurechtfinden müssen, für den sie erst die nötige Qualifikation erwerben müssen.

Die Arbeitswelt 4.0 könnte massive neue Formen der Ungerechtigkeit mit sich bringen und, wenn sie nicht entsprechend weitblickend gestaltet wird, sogar ein neues Cyberproletariat erzeugen, eine Parallelgesellschaft der Abgehängten, die mit dem Fortschritt der Wissensgesellschaft nicht Schritt halten konnten. Immerhin ist das Problem auch bereits in der Politik angekommen, der Bundesrat wird das Thema "Digitale Zukunft sozial gerecht gestalten" sogar zum Schwerpunkt des nächsten halben Jahres machen.

Das ist deshalb wichtig, weil noch schneller als die tatsächliche Ungleichheit die Angst vor ihr zunimmt. Auch dies ist ein Ergebnis der Arena-Analyse: Es reicht nicht, auf Wirtschaftswachstum und positive Arbeitsmarktdaten zu setzen, es geht ebenso darum, den Kampf gegen Ängste und die gefühlte Ungleichheit aufzunehmen. Denn die diffuse Verunsicherung setzt eine Spirale der Entzweiung in Gang: Angst führt zu Neid und Verteilungskonflikten, daraus entstehen Antagonismen zwischen Gruppen, die sich jeweils enger zusammenschließen und nach außen abschotten.

Im Internet fallen dann die Angehörigen des digitalen Fight Club übereinander her, was sogar den US-Ex-Präsidenten Barack Obama zu drastischen Mahnungen greifen ließ. In einem BBC-Hörfunkgespräch mit Prinz Harry warnte Obama vor den polarisierenden Wirkungen der sozialen Medien, die zu einer "Balkanisierung der Gesellschaft" führen könnten. Wenn wir nicht aufpassen, sagte er, leben wir bald alle in "fragmentierten Realitäten". Das war natürlich auch ein Seitenhieb auf seinen manisch twitternden Nachfolger, doch betrifft diese Zersplitterung die Gesellschaft als Ganzes.

Zusammenhalt versuchen

Lässt sich die österreichische, die europäische Gesellschaft angesichts solcher Zentrifugalkräfte überhaupt noch zusammenhalten? Wir müssen es jedenfalls versuchen, meint das Arena-Analyse-Expertenpanel, denn ohne Kohäsion kann eine menschliche Gemeinschaft nicht funktionieren. Abhilfe schaffen zwei überraschend einfache Mittel: Zum einen Bildung, denn die überwindet nicht nur das Handikap der schlechten Qualifikation, sondern schafft auch Perspektiven. Und zum anderen die Arbeit einer Zivilgesellschaft, die Menschen in der realen Welt zusammenbringt – nicht selten wurden sogar Hassposter friedvoll und einsichtig, sobald sie dem Feind einmal von Angesicht zu Angesicht begegnet waren und mit ihm Kaffee getrunken hatten.

Schließlich gilt bis heute der berühmte Satz, der dem englischen Schriftsteller John Donne angesichts der Zerrissenheit seines Landes im 17. Jahrhundert aus der Feder floss: "No man is an island entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main." (Bettina Fernsebner-Kokert, Walter Osztovics, 10.1.2018)