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Dass einem die Bücher von US-Autoren auf den Kopf fallen, passiert im American Writers Museum in Chicago hoffentlich nicht.

Foto: Picturedesk

Michigan Avenue, Downtown Chicago: Hier, zwischen The Loop und der silbernen Cloud-Bohne im Millennium Park, ist das American Writers Museum untergebracht. In einem schlichten Bürohochhaus, das eher an Immobilienmakler und Vermögensverwalter denken lässt, befindet sich das Zehn-Millionen-Dollar-Projekt. Finanziert wurde das Museum ausschließlich aus privaten Mitteln, auch mit einer kleinen Spende der Donald Rumsfeld Foundation.

Steigt man aus dem Fahrstuhl im zweiten Stock, reibt man sich etwas erstaunt die Augen: Kann eine Ausstellungsetage genügen, um die Geschichte der US-amerikanischen Literatur darzustellen? Reichen ein paar Hundert Quadratmeter, um Schriftsteller und Werke von Arthur Miller, Vladimir Nabokov, Sylvia Plath, Gertrude Stein oder Ezra Pound zu würdigen?

Das American Writers Museum ist das erste Museum der Vereinigten Staaten, das sich der Geschichte US-amerikanischer Autoren als Ganzes widmen will und nicht nur einzelnen Autoren wie Ernest Hemingway in Oak Park, Jack London in Glen Park, Mark Twain in Hannibal oder Edgar Allen Poe in Philadelphia. Lebende Autoren? Fehlanzeige! Es werden nur verstorbene Personen gewürdigt. Noch lebende Schriftsteller bleiben draußen vor der Ausstellungstür, wie Museumsmitbegründer Werner Hein erklärt: "Das Museum würdigt etwa 150 Autoren. Kämen dazu noch lebende Schriftsteller, hätte das Museum seine Ausstellungsfläche verdoppeln müssen." Außerdem gäbe es eine weitere Schwierigkeit, so Hein: "Nach welchen Kriterien hätte man bei den hunderten lebender Autoren auswählen sollen? Dazu kommt, dass wir noch die unterschiedlichen Genres, die im Museum vertreten sind, abdecken müssen. Schließlich: Schriftsteller haben ihre Fans. Die Entscheidung für einen Autoren würde zu Protesten eines unberücksichtigten führen."

Kein J.-D.-Salinger-Schreibtisch

Was beim Gang durch die fünf Ausstellungsräume auffällt: Die Kuratoren haben fast vollständig auf Artefakte mit auratischer Wirkung verzichtet. Es gibt keinen J.-D.-Salinger-Schreibtisch, keinen Jack-London-Ohrensessel, keine Dashiell-Hammett-Schreibmaschine und kein Emily-Dickinson-Originalmanuskript – ein Museum, das auch auf die Bücher der Autoren verzichtet? Genau das gehöre zum Konzept des American Writers Museum, so Museumspräsident Carey Cranston: "Bei uns gibt es stattdessen interaktive Touchscreens. Da können die Besucher zum Beispiel herausfinden, wo Autoren gelebt haben, wo sie geboren wurden. Durch moderne, multimediale Ausstellungstechniken zeigen wir einen repräsentativen Querschnitt des amerikanischen Schriftstellertums." Man sei eben keine Bibliothek oder keine Sammlung, so Cranston, wo alles "unter einer Glasvitrine aufbewahrt" wird.

Stattdessen gibt es Hightech-Multimedia-Installationen in Hülle und Fülle. Zum Beispiel einen hypnotisierenden "Wörterwasserfall": Auf eine riesige Leinwand werden hunderte Schriftstellernamen und literarische Zitate aus deren Werken kaskadenhaft projiziert, erscheinen, verschwinden wieder oder formieren sich zu Gegenständen und Gesichtern. Die Matrix-Anspielung ist sicher kein Zufall.

Repräsentativer Querschnitt statt Hall of Fame

Im nächsten Ausstellungsraum befindet sich eine große Wand mit Autorenporträts – alles chronologisch geordnet von der Entdeckung Nordamerikas bis zur Gegenwart. Darunter befinden sich erstaunlicherweise nicht nur Schriftsteller, sondern auch Seefahrer, Geistes- und Naturwissenschafter, Politiker, Bürgerrechtler oder Musiker wie der Rapper Tupac Shakur. Eine Hall of Fame solle das allerdings nicht sein, betont Cranston, man wolle hier nicht die Besten nominieren, sondern einen repräsentativen Querschnitt zeigen.

Da wird auf Thomas Jefferson und die von ihm verfasste US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung verwiesen, auf Abraham Lincolns Gedenkrede an die im Bürgerkrieg Gefallenen oder auf einen Brief, den Martin Luther King aus dem Gefängnis geschrieben hat. Dazu zwei, drei Absätze Infotext, der in seiner Kürze nicht annähernd an Wikipedia heranreicht. Bei der Aufzählung aber wird eines klar: Im American Writers Museum geht es nicht um Lyriker und Romanciers im engeren Sinne, sondern um Textproduzenten im Allgemeinen.

Gegenüber befindet sich eine Wand mit Boxen und kleinen Klapptüren, hinter denen gedruckte Zitate versteckt sind, Gerüche, Film- und Tonaufnahmen. Das ist ästhetisch nett gemacht, aber in die Tiefe geht das nicht und bleibt wie bei John F. Kennedys Inaugurationsrede von 1961 meist bei Altbekanntem, wenngleich Cranston erklärt, dass "Kennedy auch ein begnadeter Redenschreiber war", der durch seine Worte die US-Amerikaner beeinflusst habe. "Wir wollen zeigen, wie wichtig zum Beispiel Reiseerzählungen sind, theologische Reden, Wildwestgeschichten, Gastronomiekritiken, Comics. Es geht uns nicht nur um Kurzgeschichten, Lyrik und Dramen. Wir interessieren uns auch für Sachbuchliteratur."

Museum zum Durchklicken

In der Installation American Voices liest man zu James Fenimore Cooper, dem Verfasser der Lederstrumpf-Geschichten, dass der österreichische Komponist Franz Schubert auf dem Sterbebett liegend seinen Bruder bat, beim nächsten Besuch ein Buch von Cooper mitzubringen. Am besten den Letzten Mohikaner. Solche Verbindungen sind überraschend und interessant, aber die Frage nach Wirkung und Rezeption von Literatur bleibt im Anekdotenhaften stecken. Museumspräsident Carey Cranston sieht das allerdings anders: "Es geht darum, dass die Leute hier Spaß haben und nicht einfach still herumsitzen. Wir wollen die Besucher ermutigen, an den Bildschirmen und Touchscreens herumzuspielen und dabei Verbindungen zwischen ganz unterschiedlichen Autoren zu entdecken."

An mehreren Bildschirmterminals kann man sich durchklicken: Hier äußern sich Experten zu literaturgeschichtlichen Schlüsselbegriffen wie Experimentelle Literatur, Nonkonformismus oder Satire. In zwei weiteren Ausstellungsräumen werden temporäre Ausstellungen gezeigt sowie Leihgaben von Dichterhäusern, mit denen das Museum kooperiert. Etwa die berühmte 37 Meter lange Papierrolle aus dem Beat Museum in San Fransisco, auf die Jack Kerouac seinen Roman On the Road geschrieben hat. Oder der hawaiianische Garten des Schriftstellers W. S. Merwin – eine schöne Installation aus Naturgeräuschen und Lyrik. Der Impetus, kein trockenes Museum zu sein, steht nicht nur hier im Vordergrund.

Story of the Day

Dass es dem American Writers Museum nicht nur um große Namen geht, beweisen Spielereien mit einem "Do-it-yourself-Dialoggenerator" und alte Schreibmaschinen, an denen man eine "Story of the Day" verfassen kann. Sie drücken das Credo aus: In jedem kann das Potenzial zum Dichter schlummern. Probiere es selbst aus, so Werner Hein: "Unabhängig von Kategorien wie High Art oder Low Art möchten wir den Besuchern zeigen, was gutes Schreiben bewirkt hat oder bewirken kann. Versuche es einmal, sagen wir dem Besucher, setz dich und schreibe einmal eine Geschichte oder ein Gedicht. Am Ende soll dem Besucher bewusst sein, wie wichtig das Schreiben und das Lesen für ein sinnvolles Leben sind."

Das American Writers Museum ist kein traditionelles Museum, das sich auf das Sammeln, Bewahren, Ausstellen und Lernen konzentriert. Stattdessen geht es darum, welche Autoren und Werke die US-amerikanische Kultur beeinflusst haben. Die nachdenkliche Reflektion, wie etwa literarische Texte entstehen, wer daran "mitschreibt", wie Unterhaltungsindustrie, Medienkonzentration und Infotainment auf Literatur wirken, findet im American Writers Museum nicht statt oder wie Museumspräsident Carey Cranston mit US-amerikanischem Überschwang formuliert: "Wir feiern die Vergangenheit, promoten die Gegenwart und inspirieren die Zukunft!" (Michael Marek, 13.1.2018)