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"Tun, was richtig ist", plakatierte die ÖVP im Wahlkampf. Ist es das am Beispiel Familienbeihilfe?

Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

"Neue Gerechtigkeit" steht als Titel über dem sozialpolitischen Programm, mit dem die Liste "Sebastian Kurz – die neue Volkspartei" im vergangenen Oktober zur Wahl angetreten ist. Und auch dieser Tage sprechen Kurz oder Elisabeth Köstinger oft und nicht ohne Emphase von Gerechtigkeit – und zwar im Zusammenhang mit der Senkung der Familienbeihilfe für nicht in Österreich lebende Kinder. Es lohnt sich, näher hinzusehen, wenn ein zentraler Begriff der politischen Theorie und Praxis so auffällig strapaziert und noch dazu – vorgeblich – neu definiert wird.

Die "Presse" vom 4. Jänner 2018 zitiert Kurz mit der Feststellung, es handle sich um eine Verzerrung im System, wenn für Kinder in Ländern mit deutlich niedrigeren Lebenserhaltungskosten gleich viel Familienbeihilfe gezahlt werde wie für jene in Österreich, und mit der Neuregelung sei ein "Schritt zu mehr Gerechtigkeit" gelungen.

Bedarfsgerechtigkeit

Von welcher Gerechtigkeit ist hier die Rede? Die Regierung Kurz bezieht sich offenbar auf das, was in der Gerechtigkeitstheorie "Bedarfsgerechtigkeit" heißt: Aus dem zum Beispiel in Ungarn niedrigeren Preisniveau wird ein geringerer Bedarf an Unterstützung abgeleitet und so die geringere Familienbeihilfe gerechtfertigt.

Diese Argumentation scheint zunächst in sich schlüssig. Aber wird das Kriterium des Bedarfs hier nicht selektiv angewandt? Hat nicht die Höhe des Primäreinkommens von Kindeseltern einen ebenso großen Einfluss auf den Unterstützungsbedarf wie das Preisniveau? Benötigt – bei jeweils gleicher Kinderzahl und gleichem Preisniveau zum Beispiel in Österreich – eine Familie mit 6.000 Euro Haushaltseinkommen eine gleich hohe Familienbeihilfe wie eine Familie mit 3.000 Euro Haushaltseinkommen?

Hier wird das Bedarfsprinzip allerdings nicht angewandt, es wird vielmehr mit zweierlei Maß gemessen und damit eine zentrale Gerechtigkeitsregel verletzt. Im Übrigen unterscheiden sich auch innerhalb Österreichs die Lebenshaltungskosten beträchtlich. Zum Beispiel beträgt die durchschnittliche Bruttomiete pro Quadratmeter für Wohnungen im Burgenland 5,50 Euro, im Bundesland Salzburg hingegen 9,00 Euro. Denkt jemand daran, deshalb die Familienbeihilfe in unterschiedlicher Höhe auszuzahlen?

Leistungsgerechtigkeit

Noch wesentlich gravierendere Widersprüche als beim Aspekt "Bedarfsgerechtigkeit" brechen allerdings auf, wenn man die Familienbeihilfenkürzung im Hinblick auf "Leistungsgerechtigkeit" betrachtet. Die Betonung von Leistung und Leistungsgerechtigkeit durchzieht Wahlprogramm ("Wer Leistungen beziehen will, muss zuerst Leistungen erbringen") und Regierungsprogramm gleichermaßen. Wird dieses Prinzip auch im Zusammenhang mit der Kürzung der Familienbeihilfe eingelöst?

Sämtliche Familienleistungen werden in Österreich aus dem Familienlastenausgleichsfonds (Flaf) finanziert. Dieser verfügt derzeit über ein Budget von circa sieben Milliarden Euro. Davon stammen rund sechs Milliarden aus einer Dienstgeberabgabe (4,1 Prozent der Lohnsumme) und rund eine Milliarde aus der Lohn- und Einkommensteuer. Der in Österreich lebende und berufstätige Elternteil eines im Ausland lebenden Kindes erbringt hier eine Steuer- und Sozialabgabenleistung in derselben Höhe wie jeder österreichische Staatsbürger mit gleichem Einkommen. Ein Teil seiner Lohnsteuer fließt in den Flaf, und auch der Dienstgeberbeitrag, der überwiegend den Flaf speist, wird von ihm und allen anderen Arbeitnehmern indirekt mitfinanziert, da dieser Dienstgeberbeitrag in der Lohnhöhe mindernd und in den Preisen erhöhend einkalkuliert ist.

Aus dem Flaf werden neben der Familienbeihilfe das Kinderbetreuungsgeld, die Schülerfreifahrt, die Gratisschulbücher, die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen und die Pensionsbeiträge für Kindererziehungszeiten finanziert.

Darüber hinaus leistet der in Österreich arbeitende und Steuern zahlende Elternteil Beiträge zur Finanzierung des Baus und Betriebs von Kindergärten und Schulen inklusive der Gehälter des dort tätigen Personals, und über seinen Krankenversicherungsbeitrag fließen Mittel zur Finanzierung der Mitversicherung von Kindern. All diesen Steuer- und Abgabenleistungen des EU-ausländischen Arbeitnehmers steht derzeit für sein nicht in Österreich lebendes Kind lediglich die Familienbeihilfe in voller Höhe gegenüber. Sämtliche anderen Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsleistungen werden von diesem Kind nicht in Anspruch genommen, woraus sich für die Republik Österreich ein beträchtlicher finanzieller Vorteil ergibt.

Gerechtigkeitsskandal

Es besteht also für ausländische Arbeitnehmer, deren Kinder im Ausland leben, auch bisher schon ein grobes Missverhältnis zwischen ihren Leistungen und Beiträgen zum österreichischen Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbudget einerseits und dem Nutzen andererseits, den ihre Kinder daraus ziehen können. Dieses Missverhältnis wird durch die geplante Senkung der Familienbeihilfe weiterverschärft. Ein im Sinne der Leistungsgerechtigkeit immer schon zutiefst unausgewogener Zustand kippt vollends ins Skandalöse.

Dieser Gerechtigkeitsskandal steht im engen Bedingungszusammenhang mit einem demokratiepolitischen Missstand. Es wird hier wie auch in anderen Fällen grob benachteiligend in Lebensbedingungen von Menschen eingegriffen, denen das demokratische Mittel des Wahlrechts vorenthalten wird. Auch wenn diese Menschen oft schon jahrelang in Österreich arbeiten und ihre Steuern zahlen, müssen sie wehrlos mitansehen, wie Parteien an die Macht gewählt werden, indem sie der Mehrheitsbevölkerung versprechen, die Menschenrechte von Minderheiten weiter zu beschneiden und gegen deren angebliche "Anspruchshaltung" hart vorzugehen.

Wer die Rede von der "neuen Gerechtigkeit" ernst genommen haben sollte, muss spätestens jetzt erkennen: Das alte Unrecht bleibt, und es wird unverschämt weiterentwickelt. (Michael Kollmer, 12.1.2018)