Essen, Duschen, Schlafen, Lesen, Grillen, Aufräumen, Filmschauen, Musikhören und Meditieren – der 65-jährige Yasuo Moriyama beim Wohnen.

Foto: Beka Lemoine

Auf einem 280 Quadratmeter großen Grundstück ist ein ganzes Dörfchen entstanden.

Foto: Beka Lemoine

Elfte Minute. Yasuo Moriyama ist gerade im ersten Stock seines Hauses unterwegs, marschiert zwischen tausenden Büchern hin und her, schiebt Bücherregale nach links und nach rechts, sucht nach einem ganz bestimmten Exemplar, die Fenster stehen offen, der Vorhang ist zur Seite geschoben, als von außen plötzlich eine Stimme in den Raum dringt. "Moriyama-San!"

Der Briefträger ist da. Er steht unten, schaut in den ersten Stock hinauf und überreicht dem bloßfüßigen Bewohner, der sich gerade auf den Boden gesetzt hat, die Beine aus dem Fenster baumelnd, die Arme nach unten streckend, ein blaues Päckchen. "Hai! Arigatou gozaimasu!" Abgang. Und Schnitt.

Die respektvolle, in Japan gebräuchliche Anrede Moriyama-San ist auch Titel des neuen Dokumentarfilms von Ila Bêka und Louise Lemoine. Der 63-minütige, fast wortlose Film, der in den letzten Monaten auf Filmfestivals in London, Leipzig, Moskau, Chicago und Tel Aviv gezeigt wurde und dabei etliche Preise eingeheimst hat, ist nun erstmals auch als Stream (€ 5,85) und Download (€ 10,94) für den Privatgebrauch erhältlich. Die beiden französischen Filmemacher begleiten darin mit ihrer Kamera den 65-jährigen Yasuo Moriyama beim Wohnen, Essen, Duschen, Schlafen, Lesen, Grillen, Aufräumen, Filmschauen, Musikhören und beim Meditieren.

Vier Wohnkisten

Und in gewisser Weise ist Moriyama-San selbst schon ein Gebet, eine lustige, skurrile und bisweilen sehr berührende Würdigung der japanischen Wohnkultur und dieses ziemlich außergewöhnlichen Lebensalltags in Tamata am südlichen Stadtrand von Tokio. Vor einigen Jahren schon hat Moriyama das Einfamilienhaus seiner verstorbenen Mutter geerbt, ist nach reichlicher Überlegung jedoch zu dem Entschluss gekommen, es abzureißen und durch einen kleineren Neubau zu ersetzen, der zugleich symbolischer Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sein sollte.

Er kontaktierte Ryue Nishizawa vom Tokioter Architekturbüro SANAA, Pritzker-Preisträger 2010, und dieser machte ihm den Vorschlag, ihm nicht nur ein Haus, sondern gleich ein ganzes Dörfchen auf sein gerade einmal 280 Quadratmeter großes Grundstück zu stellen. Die zehn weißen, teils mehrgeschoßigen Quader – darunter zwei Badezimmer-Boxen und eine Küchen-Box – sind durch einen offenen, in der Zwischenzeit üppig bewachsenen Garten miteinander verbunden. Vier Wohnkisten nutzt Moriyama für sich selbst, in den anderen wohnen Fremde zur Untermiete.

Funktionierendes Wirtschaftsmodell

"Das Wohnkonzept ist genial und zu hundert Prozent auf diesen einen Bauherrn zugeschnitten", sagt Filmregisseur Ila Bêka, "denn der Architekt hat Moriyama ein Haus vorgeschlagen, mit dem er nun seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das heißt, dass er bis an sein Lebensende nie wieder arbeiten müssen wird. Er verbringt den ganzen Tag damit, seinen Leidenschaften nachzugehen. Er liest, er schaut Kunstfilme, er hört japanische Experimentalmusik. Das Wirtschaftsmodell funktioniert. Moriyama ist ein lebender Poet."

13. Minute. Moriyama wird in vielen verschiedenen Lebens- und Lesepositionen gefilmt. Auf dem Boden, im Liegen, im Sitzen, im Stehen, auf dem Sessel, auf der Bank, im Bett, auf den Stiegen, auf der Galerie, am offenen Fenster, und wieder baumelnde Beine, hinaus in den Garten. Zwei Minuten später liegt Moriyama am Holzboden, direkt neben dem raumhoch geöffneten Fenster. Der Vorhang flattert im Wind, seine Arme sind hinausgestreckt, sein Kopf ist verdreht, das Buch schwebt irgendwo über der Straße. Moriyama-San ist in seinem Element: "Oh, der Vorhang, die Bäume, der blaue Himmel ... ich mag das!"

In der 38. Minute, ein Schwenk zwischen zwei Häuschen hinaus auf die Straße, geht eine Frau mit weißem Kimono, Holzschlapfen und Tabi-Söckchen durchs Bild. "Mich hat die Lebensweise dieses Menschen sehr berührt", sagt Ila Bêka, der insgesamt sieben Tage lang bei Moriyama Unterschlupf gefunden hat, "weil sie zeigt, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein, und wie viel dieses Wenige ausmachen kann."

Komfort ist etwas Subjektives

Dutzende Male pro Tag verlässt Moriyama ein Haus, um ins nächste zu gelangen, bewegt sich fast den ganzen Tag ohne Schuhe durch den Garten, gießt Pflanzen, rettet Tausendfüßer, wäscht sein Aquarium, zündet Kerzen und Räucherstäbchen für seinen verstorbenen Hund an. Und verlässt bei alledem nur selten sein eigenes Dorf.

"Komfort ist etwas Subjektives. Moriyama-San hat eine sonderbare Empfindung davon, was das ist." Die Einblendung in der Mitte des Films ist die perfekte Überleitung zur Frage aller Fragen. Der Regisseur zum Bewohner: "Sie schlafen am Boden, einfach so, ohne Bett und ohne Futon?" Und Moriyama-San, der ein so spitzbübisches Gesicht und einen scheinbar so gesunden Körper wie ein Jugendlicher hat, antwortet: "Ich brauche einfach nur einen Polster, mehr nicht." Wabi-Sabi nennt sich die im 16. Jahrhundert begründete Lebensästhetik, die sich darauf konzentriert, Schönheit in den Unvollkommenheiten des Lebens zu finden und sich mit dem Unbequemen, mit dem Unperfekten im eigenen Sein zu arrangieren.

Mehr als ein Dokumentarfilm, ist Moriyama-San ein bis zur letzten Minute inspirierender Denkbeitrag zum heutigen Bauen und Wohnen – und damit eine mehr als dringend benötigte Alternative zu Fixer Upper, Die Bauretter, Die Schäppchenhäuser, Zuhause im Glück und Unser Traum vom Haus, die derzeit die Medienwelt prägen und das gesellschaftliche Kulturgut Wohnen auf eine kaum wiedergutzumachende Weise verkleinbürgerlichen und verblöden lassen. Oder, wie eine der Festivalbesucherinnen in einem Tweet geschrieben hat: "Diesen Film muss jeder gesehen haben." (Wojciech Czaja, 20.1.2018)