Silvia Bengesser, Herwig Gottwald (Hrsg.), Werke und Briefe, Band 6: "Die Mappe meines Urgroßvaters", Kommentar. € 439,- / 678 Seiten. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2017

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Das Adalbert Stifter-Denkmal im Park vor dem Landhaus in Linz.

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Die Arbeit an der Mappe meines Urgroßvaters hat Adalbert Stifter zeit seines Schriftstellerlebens nicht losgelassen. Die Mappe des Vorfahren, die der Urenkel, der Arzt Augustinus, auf dem Dachboden seines Elternhauses findet, enthält die Aufzeichnungen eines längst Verstorbenen, der ebenfalls den Namen Augustinus trug und Arzt war. An dem Titelmotiv wird verständlich, dass ein Autor wie Stifter in diesem Topos der Lebenserzählung die Voraussetzungen und Grundlagen seines eigenen Schreibens und die Bedeutung der Schrift sich spiegeln sah.

Mit dem Motiv des Aufschreibens verbindet sich die Frage nach dem eigenen Herkommen, nach der eigenen Entwicklung und nach dem Sinn des Tätigseins und sozialen Wirkens, denn der Vorfahre war wie sein Urenkel von Beruf Arzt, und er trug auch den Namen Augustinus, mit dem ein genealogisch literarischer Assoziationsraum sich auftat. Schreiben und ärztliche Praxis sind so von Beginn an in der Entstehungsgeschichte der Mappe wie verwandtschaftlich aufeinander bezogen, und sie gehören zu den nicht wenigen thematischen Linien, die sich durch all die Veränderungen und Umstellungen der romanhaft und locker sich aneinander schließenden, relativ selbstständigen Erzählungen des Mappen-Stoffes ziehen.

Schreiben und ärztliche Praxis

In der Tendenz zur Erweiterung des Erzählvorhabens, für welches Stifter früh schon eine Nähe zum Roman sah, in welchem sich das Verlorene nach langen Zeiträumen wiederfinden kann und die Gestalten Zeit und Raum für ihre menschliche und soziale Entwicklung finden, lag von Beginn an ein Konfliktpotenzial mit dem Verleger Gustav Heckenast. Aber noch viel mehr als die Tendenz zur Erweiterung führte Stifters Hang zum Umarbeiten zur Zerreißprobe mit den Verlagsinteressen des Verlegerfreunds.

Kaum war die erste Fassung der Mappe 1841/42 in einzelnen Folgen in einem Wiener Journal erschienen, arbeitete sie der Autor in eine 'verbesserte' zweite Fassung um, die sogenannte "Buchfassung" der Studien (1847). Und bevor diese in Druck ging, war der Autor in Gedanken bereits wieder bei einer neuen Umarbeitung. Aber die Korrekturen waren dann doch mehr als eine Manie, sie folgten keinem Schematismus der Korrektur der Korrektur der Korrektur, sondern in ihnen artikulierte sich die Verantwortung für die literarische Form, in der für Stifter die Ethik des Schreibens lag, die Form als die gestaltete Idee des Menschen und was er sein kann und sein soll.

In den schweren gesundheitlichen Krisen und von der Arbeit am Witiko erschöpft, wollte sich Stifter zuletzt mit der Arbeit am 'Roman' über den sozialtherapeutisch tätigen Augustinus selbst aus der Krankheit heraushelfen. Eine "liebevolle Arznei" nannte Stifter die neuerliche Arbeit am Mappen-Stoff in einem Brief vom 12. Februar 1864. Aber bevor er die vierte und letzte Fassung vollenden konnte, ist er am 28. Jänner 1868 gestorben.

Umwegige Entstehungsgeschichte

Allein an der umwegigen, letztlich dramatischen Entstehungsgeschichte der Mappe kann man verstehen, dass die Editionsphilologie hier eine exemplarische Herausforderung vor sich hatte, die uns vor Augen führen kann, worin ihre Bedeutung für die literarische Kultur und für das kulturelle Gedächtnis liegt.

Mit dem von Silvia Bengesser und Herwig Gottwald verfassten, beinahe 800 Seiten umfassenden Kommentarband zur dritten und vierten Fassung der Mappe in der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe (Bd. 6,1-4) liegt nunmehr die gesamte Edition dieser Werkgruppe vor. Allein dieser Kommentar (Bd. 6,4) kann als ein editionswissenschaftliches Ereignis von internationalem Rang angesehen werden. Zunächst wird zu der erstmals in der Gesamtausgabe vorliegenden dritten und vierten Fassung der Mappe eine übersichtliche Zusammenstellung und nachvollziehbare Deutung der ausgewählten Zeugen der Entstehungsgeschichte geboten.

Unter dem Titel "Überblickskommentare" haben die Verfasser dann die topografische, autobiografische, medizinische und intertextuelle Dimension der Texte auf eine Weise beschrieben, dass sich zeigt, wie Stifter im Mappen-Narrativ das Wissen seiner Zeit erzählerisch entfalten konnte. Was die Lektüre dieses Kommentars so erfreulich macht, sind, neben den übersichtlichen grafischen Darstellungen, die kleinen Abhandlungen, in denen überraschende, die Lesetexte der Werkausgabe erklärende Entdeckungen mitgeteilt werden. So findet man z. B. unter "Sprachliche Besonderheiten" eine Erklärung für die verfremdend wirkende Orthografie von Stifters Texten. Die Verfasser sprechen bei der dritten und vierten Fassung der Mappe von einem "orthographische[n] Vermächtnis" Stifters und erklären es damit, dass "die 4. Fassung der letzte Prosatext" ist, "an dem er bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat"; und zum anderen sei "der Schreibgebrauch des Autors von keinem Verleger bzw. Drucker im Sinne herrschender Konvention verändert worden, weil die Manuskripte nie gesetzt worden sind".

3000 Erläuterungen

Den größeren, zweiten Teil des Kommentars bildet der durch seine empirische Sorgfalt und die genauen, gegenständlichen Formulierungen beeindruckende Stellenkommentar (450 Seiten). Die etwa 3000 Erläuterungen lesen sich wie eine verborgene, von der gängigen Geschichtsschreibung vergessene und verdrängte Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die vielen nachgewiesenen Beziehungen des 'Romanworts' auf die dokumentierte Realität einer historisch-geografisch eingrenzbaren Waldgegend im südwestböhmischen Raum zeigen uns, wie stark die literarische Darstellung ihr Gravitationszentrum in der konkreten, gegenständlichen Wirklichkeit hat.

So legt sich die dialektische Einsicht nahe, dass die sozialhistorische Verortung des Stifter'schen Erzählens nicht von der Literatur wegführt, sondern dass uns dadurch nur noch bewusster wird, dass die literarische Utopie letztlich ihre Realisierung in der sozialen Realität sucht. (Hans Höller, 29.1.2018)