Elvis in der Südsee, Kinder auf der Schulbank, Krauthappelköpfe. In der Bildungspolitik muss man ob der Herausforderungen fast beten, dass deren Akteure einen geschmeidigen Lauf hinlegen.

Illustration: Felix Grütsch

Grafik: Felix Heinz Grütsch

Im Gegensatz zu jenen Ministern der neuen Bundesregierung, die vorher politische Apparatschiks in Parteisekretariaten oder Kammern waren, wurde Bildungsminister Heinz Faßmann explizit als "Experte" in die Regierung berufen. Nach eigener Aussage hat er sich anlässlich seiner Bestellung ausbedungen, dass er "das Denken des Wissenschafters auch als Minister behalten darf". Als Universitätsprofessor für Geographie mit dem Schwerpunkt Migration und Integration ist er zwar kein Bildungsfachmann, aber als Sozialwissenschafter ist von ihm zu erwarten,

· dass er zwischen ideologischen Postulaten und wissenschaftlich gesicherter Evidenz unterscheiden kann;

· dass er weiß, dass die Struktur einer gesellschaftlichen Institution wie des Schulsystems die darin ablaufenden Prozesse (Lehren und Lernen) und das Bewusstsein und die Rollen seiner Akteure (Lehrerinnen, Schüler, Eltern) nachhaltig beeinflusst,

· und dass ihm daher klar ist, dass der verharmlosende Ausdruck "differenziertes Schulsystem" verschleiern soll, dass die schulische Auslese mit zehn Jahren ein Hauptgrund für den beunruhigenden Verlust von gesellschaftlichem Zusammenhalt und das Auseinanderdriften von schichtspezifischen Subkulturen ist, die von der soeben publizierten Arena-Analyse konstatiert werden.

Fassadenrenovierung

Während seine Ministerkollegen nach den Überzeugungen ihrer jeweiligen ideologischen Heimat und den Vorgaben von H.-C. Kurz frisch drauflos werken und sich am Wohlwollen der Boulevardpresse orientieren können, gilt für Faßmann das "intellektuelle Reinheitsgebot". Von ihm werden Entscheidungen erwartet, die "evidence based" sind und das demokratische Gemeinwohl fördern, unabhängig davon, ob das in Trachtenvereinen oder auf Paukböden gut ankommt oder nicht.

Er kann es sich daher nicht so leicht machen wie im Interview mit der "Kronen Zeitung", in dem er meint, dass er froh sei, dass durch das Bekenntnis zur Auslese mit zehn Jahren, das im türkis-blauen Regierungsprogramm verankert ist, die Gesamtschule für ihn "ein Rucksack" sei, "den er sich nicht umhängen muss". Hier irrt der Herr Professor. Als Bildungsminister ist er für das Schulsystem in seiner Gesamtheit verantwortlich, also samt der lästigen Altlast der Struktur der Sekundarstufe I. Mit seiner Rucksackmetapher verhält sich Faßmann wie ein Architekt, der einen Altbau mit gravierenden Setzrissen sanieren soll, aber meint, die Statik gehe ihn nichts an, weil er bloß für die Fassadenrenovierung zuständig sei.

Er kann sich auch nicht hinter das Pseudoargument zurückziehen, dass es zu bestimmten pädagogischen Problemen in der Erziehungswissenschaft "unterschiedliche Meinungen" gibt. Es ist schon möglich, dass es auch unter den Bildungsforschern welche gibt, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, oder überzeugt sind, dass Elvis mit Prinzessin Diana auf einer Südseeinsel lebt, aber zu den meisten schulischen Problemfeldern gibt es gesicherte wissenschaftliche Befunde, die vom Mainstream der Erziehungswissenschaft anerkannt werden.

Personalisierung des Lerngeschehens

Einer dieser Kernbefunde, der von der OECD mannigfach abgesichert ist, lautet: so viel schulische Integration und gemeinsames Lernen wie möglich, um soziale Kohäsion und demokratische Wertekultur grundzulegen, und so viel Differenzierung und Individualisierung wie nötig, um der Vielfalt der Begabungen und den subjektiven Bildungsbedürfnissen der Schüler gerecht zu werden.

Zwar gibt es noch in einigen europäischen Ländern (darunter Deutschland) die traditionelle krude Selektion für unterschiedlich anspruchsvolle Sekundarschultypen, aber in den Schrittmacher-Ländern der OECD (Kanada, Schweden, Dänemark) gilt folgendes Grundmuster der Differenzierung als Idealtyp: Jedes (Gesamtschul-)Kind gehört bis zum Ende der Schulpflicht einer sozial und begabungsmäßig durchmischten Stammklasse an, in der es über die fundamentalen demokratischen Tugenden der Empathie und Solidarität sowie den Umgang mit der Vielfalt der Kulturen und Begabungen nicht bloß "belehrt" wird, sondern sie authentisch erfährt. Selbstverständlich ist es auch in diesen heterogenen Lerngruppen die Aufgabe der Lehrer, individualisiertes Lernen zu fördern, aber darüber hinaus erfolgt die Personalisierung des Lerngeschehens dadurch, dass die Schüler durch Wahl bzw. durch "withdrawal and enrichment" für Stunden, Halbtage oder längere Stütz- und Förderkurse den Klassenverband verlassen und ihre persönlichen Begabungen, Bedürfnissen und Interessen gefördert werden.

Bündel von Maßnahmen

In krassem Unterschied dazu plant das Schulkapitel des Regierungsprogramms mit gnadenloser bürokratischer Härte und in ahnungsloser Überschätzung der Exaktheit, mit der Bildungsentscheidungen getroffen werden können, ein Bündel von Maßnahmen, die sich vom Prinzip der Chancengleichheit verabschieden und bestehende Formen der sozialen Polarisierung und den Abbau von sozialer Kohäsion verstärken:

· die Segregation von (Ausländer-)Kindern mit unzureichender Beherrschung von Deutsch in separaten Deutschklassen;

· die Segregation der gymnasialtauglichen Kinder in AHS-Unterstufen, die sich die Regeln, nach denen sie "Prolos, die nicht zu uns gehören", abweisen können, selbst ("autonom") machen dürfen;

· die Wieder-Segregation von Kindern mit besonderem Förderbedarf in "ausgebauten und gestärkten" Sonderschulen; und

· die Segregation der Schüler, für die die gymnasiale Auslese nicht ausreicht, in Sir-Karl-Popper-Schulen für Schwerstbegabte, die in allen Landeshauptstädten errichtet werden sollen.

Wo ist die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Kinder in Gruppen, in denen nur fremdsprachige Mitschüler "konzentriert" werden (Copyright Kickl), effizienter Deutsch lernen und glaubwürdiger als junge Mitbürger die Werte und Konventionen Österreichs erfahren als durch Einbettung in eine deutschsprachige Klasse samt Deutschkursen?

Über die "Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen" aller Ausleseverfahren für das Gymnasium (Noten, Aufnahmeprüfungen, Lehrergutachten, Probeunterricht) hätten sich die Regierungsprogrammatiker durch Lektüre des Gutachtenbandes "Ausleseschule oder Gesamtschule?" kundig machen sollen, den Peter Seidl schon vor 45 Jahren publiziert hat. Da sich Interessens- und Begabungsstruktur eines Kindes bis zum Abschluss der Pubertät entwickelt, ist eine Auslese mit zehn unvermeidlich mangelhaft.

Nicht gut genug

Und dass Popper-Schulen nur symbolische Gesten der Begabungsförderung sein können, wird offensichtlich, wenn man sich vor Augen hält, dass es nicht nur in Salzburg oder Graz, sondern auch in Lungötz im Lammertal und St. Veit in der Gegend Schüler mit außergewöhnlichen Begabungsprofilen gibt. Es ist schwer vorstellbar, dass Faßmann als Integrationsexperte bereit ist, dieses türkis-blaue Segregationsprogramm umzusetzen. Man kann ihn nur – mit Verweis auf seine Bedingung zur Amtsübernahme – an den Leitspruch der Aufklärung "Sapere aude!" erinnern. "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" (Karl Heinz Gruber, 19.1.2018)