SPD-Chef Martin Schulz und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles zitterten um die Mehrheit bei der Abstimmung. Schlussendlich sprachen sich 56,4 Prozent für Koalitionsverhandlungen mit der Union aus.

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Bonn/Berlin – Wie SPD-Chef Martin Schulz in der Nacht auf Sonntag, in der Nacht vor diesem entscheidenden Parteitag, geschlafen hat, weiß man nicht. Aber die Anspannung ist ihm deutlich anzusehen, als er zum Rednerpult geht, um einmal mehr – und diesmal an einem ganz wichtigen Punkt – für Koalitionsverhandlungen mit der Union zu werben.

Nach dem knappen Ja des SPD-Parteitages können in Deutschland jetzt Verhandlungen für eine große Koalition beginnen.
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Zunächst verteidigt er seinen 180-Grad-Schwenk, dass er am Wahlabend gleich einmal in Opposition ging, um nun aber, nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche, doch mit der Union wieder eine große Koalition zu bilden: "Wir haben die Lage nicht angestrebt. Aber wir haben uns der Herausforderung gestellt."

Er könne jeden verstehen, der sagt: "Warum vertritt der Schulz jetzt eine andere Position?" Die Antwort gibt er selbst: "Parteien sind kein Selbstzweck, sondern dazu da, das Leben der Menschen zu verbessern." Und: "Wenn wir die Ergebnisse der Sondierungen ansehen: Wir haben eine Menge erreicht."

Chance ergreifen

Schulz erwähnt die Rückkehr zur paritätischen Krankenversicherung (derzeit zahlen die Arbeitnehmer mehr als die Arbeitgeber), die Stabilisierung des Rentenniveaus und die Erhöhung des Kindergeldes. Er rechnet vor: Eine alleinerziehende Mutter könne im Jahr 340 Euro sparen, ein Facharbeiter 1100 Euro. "Das ist viel Geld", ruft Schulz und sagt: "In meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance jetzt nicht zu ergreifen." Er bekommt immer wieder Applaus, aber dieser bleibt recht höflich, begeistert ist er nicht. Doch Schulz hat noch mehr im Talon. Er verspricht, schon im März Pläne für die Erneuerung der SPD vorzulegen und dass es nur eine Regierung geben werde, in der gleich viele Männer und Frauen vertreten sein werden. Zudem will er nach zwei Jahren die Arbeit der Koalition bewerten.

Und er hat noch einen letzten Joker, nämlich einen in letzter Minute überarbeiteten Leitantrag der SPD-Spitze. Auf Druck der GroKo-Skeptiker, vor allem jener im mächtigen Landesverband Nordrhein-Westfalen, sagen die Spitzengenossen nun zu, in Koalitionsverhandlungen noch drei Punkte durchzusetzen, die nicht im Sondierungspapier stehen: erstens "konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin". Das könnte die Einführung von gleichen Honoraren für Ärzte von Privatpatienten und gesetzlich Versicherten sein.

Zweitens, so Schulz, müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Drittens: eine Härtefallregelung für den Familiennachzug von subsidiär Geschützten. Schulz: "Da muss sich die Union bewegen. Und ich sage euch ganz klar: Die Härtefallregel wird kommen."

Schulz bittet um Vertrauen

Irgendwann aber ist alles gesagt, Schulz bleibt nur ein Appell: "Es geht um die Frage Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen. Ich glaube nicht, dass Neuwahlen für uns der richtige Weg sind. Ich bitte euch um Vertrauen."

Kurz danach spricht sein innerparteilicher Gegenspieler, Juso-Chef Kevin Kühnert, der seit Wochen massiv gegen die große Koalition trommelt. Er sieht nach acht Jahren großer Koalition (2005 bis 2009 und 2013 bis 2017) keine gemeinsame Basis mehr mit der Union und die SPD in einer fatalen Rolle: "Wir denken den Kompromiss schon vorweg, wir beschneiden uns, wir machen uns klein."

Harsche Kritik übt er am Schwenk von Schulz: "Die wahnwitzigen Wendungen und Kehrtwenden unserer Partei seit der Bundestagswahl haben noch mal mehr Vertrauen gekostet." Und wenn der Parteitag nun Nein zur GroKo sage – wie er hoffe -, dann gelte, so Kühnert: "Es ist nicht das Ende der Geschichte und nicht das der SPD."

Irritierende Tendenz

Im Gegensatz zu Schulz bekommt Kühnert donnernden Applaus. Doch es ist nicht klar, warum. Sind die GroKo-Gegner in der Überzahl? Oder klatscht die Minderheit einfach so laut? Die einen sagen so, die anderen so. Um 16.15 Uhr lässt Heiko Maas abstimmen. Für den Leitantrag, also für Koalitionsverhandlungen über eine große Koalition, sind viele. Aber dagegen offenbar mehr.

Maas blickt irritiert in den Saal und sagt: "Eine Tendenz ist zu erkennen." Sicherheitshalber lässt er jedoch die Zählkommission aufmarschieren. Die Sache ist zu heikel. Sehr nüchtern gibt Maas dann das Ergebnis bekannt: 362 Ja-Stimmen, 279 Nein-Stimmen. Maas: "Damit wird die SPD Koalitionsverhandlungen aufnehmen." Schulz schaut irgendwie grau aus, aber atmet kurz auf. Und dann singt er zum Schluss mit allen das Lied der SPD: "Wann wir schreiten Seit' an Seit'." (Birgit Baumann, 22.1.2018)