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Wien – Ist es nur fair und gerecht, wenn Kinder ihren finanziell in Not geratenen Eltern aushelfen müssen, oder ist das eine Überforderung der jungen Generation? Im Streit um die mögliche Abschaffung der Notstandshilfe spielt auch diese Frage eine wichtige und in den öffentlichen Debatten bisher unterschätzte Rolle.

Die türkis-blauen Koalitionspartner erwägen, die Notstandshilfe zu streichen. Die Überlegung laut dem Regierungsprogramm: Künftig soll es nur noch eine Arbeitslosenunterstützung geben, daran anschließend würden Leistungen aus der Mindestsicherung folgen. Die Notstandshilfe kann unbegrenzt bis zur Pensionierung gewährt werden, und dies sei oft eine Einladung, in der sozialen Hängematte Platz zu nehmen, so die Argumentation.

Seit dem Bekanntwerden der Pläne wird hitzig diskutiert. Vor allem der Umgang mit Vermögen spaltet die Geister. Bei der Mindestsicherung gilt im Gegensatz zur Notstandshilfe, dass das eigene Vermögen bis auf einen kleinen Rest von 4000 Euro aufgebraucht sein muss. Dabei gibt es noch einen wesentlichen Unterschied zwischen den Sozialleistungen.

Bei der Mindestsicherung gilt wie bei der Notstandshilfe, dass bei der Beurteilung der finanziellen Notlage eines Antragstellers das Partnereinkommen berücksichtigt wird. Wer also in einem gemeinsamen Haushalt mit einem Partner lebt, der gut verdient, erhält weniger Leistungen.

Erweiterter Personenkreis

Allerdings gilt bei der Mindestsicherung zusätzlich, dass auch das Einkommen anderer Personen, die im Haushalt leben, berücksichtigt wird. Die entsprechenden Landesgesetze sind unterschiedlich, sprechen von der "Bedarfs- oder Wirtschaftsgemeinschaft" deren finanzielle Lage als Ganzes relevant ist und von geleisteten Beiträgen "Dritter" zum Unterhalt. In allen Bundesländern werde das Einkommen der erwachsenen Kinder im Haushalt in irgendeiner Form mitberücksichtigt, sagt der Soziologe Michael Fuchs, der intensiv zur Mindestsicherung gearbeitet hat.

Ein Beispiel: In Oberösterreich leben die Eltern mit ihrer erwachsenen Tochter und deren Kind in einem Mehrgenerationenhaushalt. Der Vater und die Tochter sind berufstätig. Verliert der Vater seinen Job und rutscht in die Notstandshilfe, wird das Einkommen der Tochter nicht berücksichtigt, wenn es darum geht festzustellen, auf wie viel Geld die Bedarfsgemeinschaft Anspruch hat.

Bei der Mindestsicherung ist das anders. Das Einkommen der Tochter wird eingerechnet und sorgt dafür, dass die Höhe der ausbezahlten Unterstützung sinkt. Die Familie ersetzt den Staat.

Alle unter einem Dach

Laut dem Soziologen Fuchs geht die Tendenz sogar in die Richtung, dass auch Einkommen anderer Personen außerhalb der Familie eingerechnet werden kann.

Wie viele Fälle wären in der Praxis betroffen? Diese Frage ist nur schwer zu beantworten. In Österreich sind Mehrgenerationenhaushalte jedenfalls verbreiteter, als viele denken. 690.000 Personen leben laut Statistik Austria in einem Zwei- oder Mehrfamilienhaushalt. Die meisten solcher Großfamilien unter einem Dach dürfte es auf dem Land geben – in Niederösterreich, Oberösterreich, Tirol. Darauf deutet anekdotische Evidenz hin. Laut Statistik Austria ist ein typischer Haushalt auf dem Land jedenfalls größer als in Wien.

DER STANDARD hat sich in mehreren Bundesländern umgehört und die für Sozialpolitik zuständigen Abteilungen in der Landesregierung kontaktiert. Eine ausgewertete Statistik zu der Frage, wie oft Einkommen erwachsener Kinder oder anderer Personen bei der Mindestsicherung in welcher Form eingerechnet werden, hatte man nirgends parat.

Getrennte Küche

In Oberösterreich erzählt ein Beamter, dass in der Praxis genau auf die Haushaltsgröße und -form geachtet werde. Leben zwei Familien unter einem Dach, gelte, dass es sich um zwei Haushalte handle, wenn Toiletten, Bad, Küche und Eingang getrennt seien. Ein separates Wohnzimmer reiche nicht aus. Gebe es nur einen Eingang, sei dies "ein Grenzfall", die Behörde entscheide dann nach einer Abwägung welche Einkommen nun exakt einberechnet werden und welche nicht.

Der Soziologe Michael Fuchs ist überzeugt, dass die unterschiedliche Rechtslage bei Mindestsicherung und Notstandshilfe eine zentrale Rolle spielt. Fuchs arbeitet am Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien und hat im Auftrag des Finanzministeriums untersucht, wie sich das Ende der Notstandshilfe auswirken würde.

Die Hauptaussage seiner Arbeit ist bekannt: Der Staat würde sich in der Basisvariante rund 700 Millionen Euro pro Jahr ersparen. Im Gegenzug würde das Armutsrisiko steigen. Weniger bekannt ist, woher diese Ersparnis kommt.

Wer gehört zum Haushalt?

Die ausbezahlte Notstandshilfe ist schließlich in vielen Fällen niedriger als die Richtsätze der Mindestsicherung. Auf den ersten Blick wird also nicht klar, warum ein Ende der Notstandshilfe dazu führen sollte, dass die Staatsausgaben sinken. Zur Erklärung sagt Fuchs, dass die Einsparungen primär aus der unterschiedlichen Betrachtung der Haushalte in beiden Systemen herrühren.

Bei der Mindestsicherung wird das Einkommen der Partner schon ab einer geringeren Höhe berücksichtigt, und der Verdienst anderer Haushaltsmitglieder zählt ebenso. Hinzu kommt zudem, dass Betroffene mit Notstandshilfe etwas mehr dazuverdienen dürfen. Diese Unterschiede führten dazu, dass der Wegfall der Notstandshilfe für viele Haushalte eine finanzielle Schlechterstellung bedeutet, so Fuchs. Ist das fair? Fuchs will dazu nichts sagen. Die Argumente müsse jeder abwägen.

Sicher ist, dass die Notstandshilfe bald noch vorteilhafter wird. Mit 1. Juli fällt die Anrechnung des Partnereinkommens nämlich komplett weg. (András Szigetvari, 22.1.2018)