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#MeToo beim Women's March in Cambridge, Massachusetts.

Foto: REUTERS/Brian Snyder

Sind es zwei Pole, an denen sich die MeToo-Debattierenden so angestrengt aufreiben? Oder sind es doch künstlich gezogene, zunehmend verschwommene Grenzen, die die Geschlechter so verzweifelt um Orientierung bangen lassen? Da verstockte Moral und hysterischer Feminismus, dort blinder Liberalismus und ewiggestriger Konservatismus? Und ist das gewaltzentrierte Körperliche schlichtweg sachlich von bloß emotionalen Befindlichkeiten zu extrahieren? Wie kann diese Krise entwirrt werden? Wir wollen um einen Gedanken erweitern.

Nina Proll legt unbeirrt nach. Positiv bezugnehmend auf den international heftig kritisierten Aufruf 100 französischer Frauen (erschienen in "Le Monde") – bekannteste Unterzeichnerin ist Catherine Deneuve –, Männern die Freiheit zu gewähren, lästig werden zu dürfen, konstatiert Proll auf Facebook: "Die Sprache verkehrt sich heute ins Gegenteil." Frauen würden als Konsequenz von #MeToo zu ewigen Opfern verdammt, weibliche Gegenstimmen unversehens als Verräterinnen angeprangert. Denunziation, Hexenjagd, Schnelljustiz – so Prolls Diktion. Proll sieht sich als Advokatin der Männer, die sich unschuldig lediglich "einen Kuss stehlen wollten", und fordert jene, die sich belästigt fühlen, zum Neinsagen auf. Womit die Ordnung wiederhergestellt wäre, meinen nicht nur Proll und Deneuve. Und andernfalls? Ist's sonst vorbei mit der Freiheit der Liebe?

Eine "Zweckmäßigkeit ohne Zweck"

"Die Deutschen können nicht flirten", mutmaßt Pascale Hugues am 17. Jänner 2018 auf "Zeit Online". Eine bemerkenswerte Beobachtung. Doch will sie konkretisiert werden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts essayiert der Philosoph und Soziologe Georg Simmel über eine "reine Form" der Vergesellschaftung, deren Verständnis in zielzentrierten Zeiten beinahe verlorengegangen scheint: die Koketterie. Die Koketterie, definiert als die "Kunst des Gefallens", ein gegenwärtiges, rein momentanes Spiel, wie es die Kunst an sich und für sich ist oder, besser, sein kann. Kant zufolge eine "Zweckmäßigkeit ohne Zweck". Oder auch im ästhetischen Sinne als "Interesseloses Wohlgefallen".

Die Koketterie hat kein Ziel. Lassen sich beide Geschlechter auf die Gleichzeitigkeit von Haben und Nichthaben ein, sind das Spiel und die Rollen unmissverständlich festgelegt. Beide Seiten haben nichts zu verlieren, auch nicht ihr Gesicht. Die Koketterie reicht über den Moment des Reizes, der An- und Rückziehung des Möglichen nicht hinaus. Keine Seite stiehlt der anderen etwas. Die Koketterie landet physisch nicht im Bett, erfährt keine Körperlichkeit. Sie spielt sprachlich und gedanklich mit Erwartungen, ohne in Aktion überzugehen. Beim Kokettieren ist ein zusätzliches Nein daher nicht vonnöten.

Koketterie gerät ins Vergessen

Vor gut 100 Jahren erkennt Simmel die Koketterie als formales Verhalten, das sich in Entscheidungen unzähliger Alltagssituationen ausgestaltet. Das ständige Hin- und Wegwenden gegenüber anderen Menschen, Ideen, Bedürfnissen, beispielsweise in Parteien institutionalisiert – der Reiz am Wechsel, das Für, Gegen und das Abwiegen. Die Moralistinnen und Moralisten und die Liberalen sind es gleichermaßen, die es verabsäumen, dies zu beachten. Kommunikationsstile, Echokammern und Meinungsfilter tun in der Debatte das Restliche. So gerät die Koketterie als eine "Spielform der Liebe" ohne Druck auf Zweck und Ziel zunehmend aus dem Blick zwischenmenschlicher Beziehungen. Vielleicht aber lösen sich Menschen aus ihren persönlichen Blasen, weil sie auch ihres Menschseins wegen gegenseitiges Interesse wecken. Obgleich: nur als ein geregeltes Spiel mit dem scheinbar Wirklichen. (Karin Scaria-Braunstein, Raffael Hiden, 22.1.2018)