Charles Darwin, circa 1878. Dass die Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse zwangsläufig im Rahmen bestehender kultureller und gesellschaftlicher Konventionen erfolgt, zeigt sich auch am Beispiel des Forschers, der die Biologie auf den Kopf gestellt hat.

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"Der hauptsächlichste Unterschied in den intellectuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern."

Diese Aussage stammt nicht von irgendeinem frauenfeindlichen Troll in den sozialen Medien, sondern von Charles Darwin, nachzulesen im 19. Kapitel seines Buches "Die Abstammung des Menschen" (aus dem Jahr 1875 in der Übersetzung von Victor Carus). Der große Wissenschafter war von der Überlegenheit des Mannes über die Frauen überzeugt und der Meinung, diese Aussage mit seinen revolutionären Ideen über die Evolution begründen zu können.

"[D]er mittlere Maßstab der geistigen Kraft beim Manne [muss] über dem der Frau stehen", schreibt Darwin weiter. Männliche Vertreter einer Spezies hätten sich im Laufe der Evolution immer anstrengen müssen, um Weibchen zwecks Fortpflanzung zu beeindrucken und mit anderen Männchen zu konkurrieren. Die Weibchen dagegen hätten sich einfach irgendeinen Partner aussuchen können. Bei den Menschen hätte das dazu geführt, dass die Männer durch Evolution und Biologie immer klüger und zu großen Kriegern und Denkern wurden. Und nur weil alle Nachkommen – auch die weiblichen – immer auch einen Teil der männlichen Erbanlagen mitbekommen, seien die Frauen evolutionär und intellektuell nicht komplett von den Männern abgehängt worden.

Widerspruch von Zeitgenossinnen

Das, was Darwin Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben hat, ist nach heutigem Stand des Wissens natürlich kompletter Unsinn. Aber auch damals gab es schon Widerspruch. 1894 veröffentlichte die amerikanische Frauenrechtlerin und Lehrerin Eliza Burt Gamble ein Buch mit dem Titel "The Evolution of Woman: An Inquiry into the Dogma of Her Inferiority to Man". Darin wies sie auf die vielen Ungereimtheiten in Darwins Ansichten zu den evolutionären Ursachen der Geschlechterunterschiede hin.

Darwin schrieb zum Beispiel einerseits, dass Affen wie die Gorillas zu groß und stark wären, um sich zu "höheren" sozialen Wesen wie Menschen zu entwickeln. Andererseits war er aber auch der Meinung, die Tatsache, dass Männer im Durchschnitt größer und stärker als Frauen sind, sei ein Beleg für deren Überlegenheit. Gamble führte weitere Argumente aus Biologie, Statistik und Geschichte an, um zu zeigen, dass Darwin sich irren musste. In der – männlich dominierten – Welt der Wissenschaft konnte sie damit aber kaum überzeugen.

Dort forschte man weiter nach den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. 1891 machte der Physiologe Charles-Édouard Brown-Séquard ein seltsames Experiment. Er spritzte sich selbst eine Flüssigkeit, die er aus den Hoden von Meerschweinchen und Hunden extrahiert hatte. Dadurch, so seine Behauptung, könne er seine körperliche und geistige Stärke erhöhen und seinen Körper verjüngen. Diese Ergebnisse wurden nie repliziert, waren aber der Auftakt zur Entdeckung und Erforschung der Sexualhormone.

Falsche Annahmen über Östrogen und Testosteron

In den folgenden Jahren fanden Wissenschafter in den Eierstöcken der Frau das Östrogen und in den Hoden des Mannes das Testosteron – und waren überzeugt, nun endlich eine biologische Erklärung für den Unterschied zwischen "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" entdeckt zu haben. Testosteron sollte Männer männlicher machen und Östrogen die Frauen fraulicher. Wenn Frauen sich nicht "weiblich" genug verhielten, dann machte man einen zu niedrigen Hormonspiegel dafür verantwortlich. Testosteron dagegen wurde unter anderem als Kur gegen Impotenz oder körperliche Schwäche bei Männern betrachtet.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entdeckten Biologen dann allerdings, dass es keine geschlechtsspezifischen Hormone gibt. Auch männliche Körper produzieren Östrogen und weibliche Testosteron. Alle Sexualhormone wechselwirken untereinander und sind sowohl für die männliche als auch die weibliche Physiologie von Bedeutung. Die Biologen – und vor allem die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer häufiger vertretenen Biologinnen – begannen nicht mehr nur die rein körperlichen Aspekte der Geschlechterunterschiede zu betrachten, sondern auch die Rolle der Gesellschaft zu untersuchen.

Häusliches Glück in Gefahr

Die Anthropologin Margaret Mead etwa war durch ihre Studien über die Sexualität der Kulturen im Südpazifik davon überzeugt, dass die Geschlechterrollen nicht genetisch, sondern kulturell bedingt sind. Auch ihre Arbeit war nicht unumstritten – aber machte klar, dass die Dinge nicht so einfach waren, wie es sich Charles Darwin und seine Zeitgenossen vorgestellt hatten.

Was als "männlich" und was als "weiblich" zu gelten hat, war vom damaligen viktorianischen Zeitgeist geprägt. Etwas anderes als die stereotypischen Geschlechterrollen der damaligen Zeit konnte man sich nur schwer vorstellen. Die amerikanische Frauenrechtlerin Caroline Kennard schrieb im Dezember 1881 einen Brief an Darwin, in dem sie seine Aussagen über die Evolution der Frau infrage stellte. In seiner Antwort wies Darwin noch einmal darauf hin, dass die Männer sich eben zwangsläufig zu intellektuell überlegenen Wesen entwickelt haben. Frauen könnten dieses Defizit nur aufholen, wenn sie sich einem ebenso intensiven Wettbewerb aussetzen müssten wie Männer. Das könne und dürfe aber nicht passieren, denn dann würden darunter "the early education of our children, not to mention the happiness of our homes" massiv leiden.

Zwischen Aufklärung und Stereotyp

Darwin hat mit seiner Evolutionstheorie einerseits gezeigt, dass die Eigenschaften der Lebewesen, inklusive uns Menschen, nicht gottgegeben und unveränderlich sind. Damit hat er nicht nur die Biologie revolutioniert, sondern auch die Tür zu Aufklärung und Emanzipation geöffnet. Andererseits blieb er aber selbst dem Zeitgeist verhaftet und war nicht in der Lage, seine Forschung anders als im Licht der damaligen Gesellschaft und ihrer Stereotype zu interpretieren.

Das ist auch die Lektion, die wir aus Darwins Irrtum lernen können. Wissenschaftliche Forschung ist das eine, die Interpretation dieser Ergebnisse aber etwas ganz anderes. Sie erfolgt zwangsläufig immer im Rahmen bestehender kultureller und gesellschaftlicher Konventionen. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man nicht Gefahr laufen will, nur das bestätigt zu sehen, was man bestätigt sehen möchte.

Die Erforschung der Geschlechterunterschiede und der Rolle von Biologie und Kultur wird weitergehen. Mittlerweile hat man in der Wissenschaft verstanden, dass es einen Unterschied zwischen "Geschlecht" und "Gender" gibt. Das biologische Geschlecht wird durch Gene, Hormone und (meistens auch) physische Eigenschaften bestimmt. Gender ist dagegen eine soziale Eigenschaft, die nicht nur von der Biologie, sondern auch von der Erziehung, dem kulturellen Umfeld und seinen Stereotypen geprägt wird. Was eine Gesellschaft als "männliche" oder "weibliche" Eigenschaften versteht, ändert sich im Lauf der Zeit und ist ebenso variabel wie die Gender-Definitionen.

Fehlende Chancengleichheit

Bei der zukünftigen Forschung auf diesem Gebiet wird man (so wie in allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen) mit Sicherheit noch den einen oder anderen Irrtum machen. Dass Frauen den Männern intellektuell nicht unterlegen sind, so wie Darwin überzeugt war, ist heutzutage glücklicherweise den meisten klar. Man hätte allerdings auch schon ein wenig früher darauf kommen können. In ihrer Antwort auf Darwins Brief schrieb Caroline Kennard im Januar 1882: "Solange Frauen nicht das gleiche Umfeld und die gleichen Möglichkeiten geboten werden wie Männern, kann man sie nicht als den Männern intellektuell unterlegen verurteilen."

Und vermutlich wird ein vollständiges (biologisches und soziologisches) Verständnis der Geschlechter und Geschlechterrollen noch so lange auf sich warten lassen, bis Frauen in unserer Gesellschaft tatsächlich die gleichen Möglichkeiten haben wie Männer. (Florian Freistetter, 23.1.2018)