Michael Felten beschäftigt sich kritisch mit den Entwicklungen im Bildungssystem.

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Die Sonderschule ist für viele Kinder ein wichtiger Schutz- und Entwicklungsraum, zumindest in bestimmten Phasen.

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STANDARD: Sie sind Autor des Buchs "Die Inklusionsfalle" und haben eine Infoplattform zur Inklusionsdebatte (inklusion-als-problem.de) gestartet. Dabei sind Sie als Gymnasiallehrer ja ohnehin kaum bis gar nicht betroffen, denn wenn, spielt sich Inklusion behinderter Kinder sowieso vor allem in anderen Schulformen ab. Warum ist Inklusion für Sie ein Problem?

Felten: Umwälzungen und Perspektivwechsel werden ja nicht unbedingt von denen angestoßen, die am stärksten leiden. Ich beschäftige mich schon seit längerem kritisch mit den Entwicklungen im Bildungssystem. Inklusion ist nun quasi das neueste und vielleicht umfassendste pädagogische "Reformprojekt". Mich hat erstaunt, dass zweifelnde Stimmen und skeptische Befunde dazu im öffentlichen Diskurs bislang nur eine marginale Rolle spielten. Dabei eskalieren die Probleme im schulischen Alltag, also jenseits der Hochglanzbroschüren. Darüber müssen wir unbedingt eine offenere, ehrlichere Debatte führen.

STANDARD: Und warum ist Inklusion für Sie nun ein Problem?

Felten: Weil die schöne Formel "Eine Schule für alle" eben nicht bedeutet, dass dort jedes Kind mit seinen Lernbedürfnissen optimal gefördert wird. Tatsächlich entwickeln sich viele Schüler in der real existierenden Inklusion schlechter als bisher.

STANDARD: Sie haben ja sogar einmal geschrieben: "Dabei ist die radikale Inklusionsschule selbst ein grotesker Menschenversuch." Das klingt doch arg zynisch.

Felten: Die Verhältnisse sind eben so. Wir werden verlockt – jede Falle hat ja ihren Speck – durch die pädagogische Vision der Differenzenlosigkeit: Kinder würden sich dann am besten entwickeln, wenn sie ungeachtet aller Fähigkeitsunterschiede miteinander lernen könnten – das sei überhaupt ein Menschenrecht. Die Klappe, die dann zuschlägt, ist: Die Schulen bekommen weit weniger Geld und sonderpädagogische Expertise als die vielgepriesenen Leuchtturmschulen, und dadurch entstehen teilweise chaotische Zustände, in denen viele Kinder auf mannigfache Art zu kurz kommen.

STANDARD: Man könnte ja auch sagen: Es schadet nichtbehinderten Kindern vermutlich nicht, wenn sie die Erfahrung machen, mit einem Kind, das vielleicht langsamer ist, das bestimmte Dinge, die sie selbst können, nicht kann, nie können wird, zu leben und zu lernen. Das ist für die meisten ohnehin die einzige Zeit in ihrem Leben. Später trennen sich die Wege, wenn es keine familiären Beziehungen gibt, sowieso fast immer. Zählt dieser Aspekt für Sie denn gar nicht?

Felten: Die sozialisierende Funktion der Schule ist mir ungemein wichtig, aber man darf sie nicht gegen jede Entwicklungspsychologie umsetzen. Wenn Kinder mit emotionalen Störungen das Lernen der Regelschüler ständig stören, wird das Miteinander nämlich schnell zum Gegeneinander. Und wenn umgekehrt ein lernbehindertes oder geistig eingeschränktes Kind in einer Regelklasse viel größere Leistungsunterschiede erlebt als im Schonraum der Sonderschule, dann wird es oft zusätzlich entmutigt. Eine deutsche Mutter schrieb in einem Blog: Entschuldigung, liebe progressive Eltern, aber ich möchte meinen behinderten Sohn nicht dafür zur Verfügung stellen, dass eure Kinder sich noch besser entwickeln, als sie es ohnehin schon täten.

STANDARD: Welche Beispiele würden Sie als vorbildhaft bezeichnen?

Felten: In Bayern gibt es etwa das System der Partnerklassen. Da wird eine Förderklasse an einer Regelschule oder in einem Schulverbund im selben Gebäude geführt. Die Förderschüler lernen mit einer sonderpädagogischen Lehrkraft nach ihrem Lehrplan, aber in bestimmten Fächern haben sie gemeinsamen Unterricht mit einer Regelklasse, außerdem gibt es ein reichhaltiges außerunterrichtliches Schulleben. Manchmal absolvieren auch Oberstufenschüler ein Pädagogikpraktikum in der besonderen Betreuung einzelner Förderkinder – es gäbe vieles, das ausbaubar wäre. Wir müssen in der Inklusionsfrage nach sehr individuellen Lösungen suchen und nicht mit dem großen Strukturhammer arbeiten, also einfach alle Kinder in dieselbe unterfinanzierte Einheitsschule stecken.

STANDARD: Deutschland hat sich für diesen radikalen Weg entschieden. Alle Förderschulen sollen abgeschafft und alle Kinder mit besonderem Förderbedarf in "normale" Schulen integriert werden. Offenbar funktioniert es aber nicht wirklich überall gut. In einem "Zeit"-Newsletter wurde ausgehend von einer Bürgerschaftsversammlung in Hamburg zum Thema "Notfall Inklusionsklassen" – eine Lehrerin so zitiert: "Den Job ertrage ich nur noch mit Rotwein." Was läuft denn da in den Schulen aus Ihrer Sicht falsch?

Felten: Da gibt's noch ganz andere Notausgänge aus dem Inklusionsdilemma. Manche Lehrkräfte lassen sich bereits vorzeitig pensionieren, weil sie diese permanent überfordernde Situation nicht verkraften. Oder sie können es mit ihrem pädagogischen Ethos nicht vereinbaren, dass alle ihre Schützlinge zu kurz kommen, die Schwachen, die Guten, die Mittleren. Keiner hat etwas von der ganzen Mühe, aber sie müssen es ausführen, weil es von oben gewollt ist. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde in den einzelnen Bundesländern bisher eben höchst unterschiedlich vollzogen. Und wo das sehr radikal geschah, stürzten darüber auch schon Regierungen.

STANDARD: Ihre Position ist klar. Sie interpretieren die UN-Behindertenrechtskonvention, die ein "inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen" fordert, nicht so, dass das die Abschaffung der Sonderschulen bedeuten würde. Die neue österreichische Regierung will die Sonderschulen auch "erhalten und stärken", die vorige rot-schwarze wollte hingegen die Sonderschulen bis 2020 nur noch als Ausnahmen erhalten. Sie dagegen fordern: "Sonderschulen dürfen nicht abgeschafft werden." Warum nicht?

Felten: Die Sonderschule ist für viele Kinder ein wichtiger Schutz- und Entwicklungsraum, zumindest in bestimmten Phasen. Die UN-Konvention hatte keineswegs die Absicht, hochspezialisierte Förderinstitutionen abzuschaffen. Sie wollte vielmehr jedem Kind, egal welcher Behinderung, seinen Anspruch auf guten Unterricht in der öffentlichen Schule garantieren. Denn in manchen Ländern, etwa auch Frankreich, waren tausende behinderter Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen, sie wurden zu Hause gehalten, in der Landarbeit beschäftigt. In Deutschland und auch Österreich zählen die Sonderschulen aber zum öffentlichen Schulangebot, als Zweig mit besonderem Unterstützungspotenzial und spezieller Lehrerexpertise. Und man sollte jedem Kind den jeweils sinnvollsten Förderort gönnen.

STANDARD: Ihre Lösung haben Sie in Ihrer Schulkolumne auf "Zeit Online" so umrissen: "So viel Integration wie möglich, aber so viel Separation wie nötig." Was heißt das?

Felten: In manchen Fällen macht gemeinsames Lernen Sinn, in anderen sind zeitweise getrennte Wege förderlicher. Auch der renommierte Sonderpädagoge Otto Speck plädiert für ein dual-inklusives Schulsystem, also ein zweigleisiges Denken: Es gibt ein Regelschulwesen, das wird ergänzt durch Spezialschulen oder -klassen als zeitweiligen besonderen Förderort, und zwischen diesen Säulen schafft man möglichst viel Durchlässigkeit und Verbindung, Offenheit und Flexibilität. Aber dazu muss man die Lehrkräfte wieder stärker pädagogisch schulen, die verbreitete Selbstlerneuphorie gehörig zurückfahren. Es wurden schon Schüler als geistig behindert gemeldet, aber dann stellte der Fachmann fest: Das Kind hat keineswegs biologische Einschränkungen – die Lehrkraft teilt jedoch nur noch Arbeitsblätter aus und erklärt nichts mehr, und es kommt einfach nicht damit zurecht, sich den Stoff selbstgesteuert aneignen zu müssen. Tatsächlich könnten geschulte Regellehrer manch leichtere, früh und rechtzeitig erkannte Lernbehinderung oder auch Verhaltensstörung auffangen. Mit inklusiven Klassen wiederum gibt es dann gute Erfahrungen, wenn sie kleiner sind als gewöhnliche und wenn ständig ein Sonderpädagoge mitarbeitet. Auch an gut ausgestatteten Schwerpunktschulen kann Inklusion funktionieren, zumindest in der Grundschule. Aber jede Behinderungsart an jeder Schule, das ist unbezahlbar – und hätte auch seine Risiken. (Lisa Nimmervoll, 23.1.2018)