In den bisherigen Blogbeiträgen habe ich die Hybris der Klimapolitik beschrieben: die Selbstüberschätzung, den Lauf der Dinge – der physischen Welt – nicht nur vorhersagen, sondern auch mehr oder weniger exakt bestimmen und lenken zu können. In der internationalen Klimapolitik erfährt sich der Mensch als Homo faber, als schaffenden Menschen mit einer streng rationalen, technisch orientierten Weltanschauung. Als Hebel dient ihm das CO2.

Die Hybris beruht auf dem äußerst erfolgreichen naturdeterministischen Weltbild: Mit Hilfe der Wissenschaften können Ereignisse in der Welt über Naturgesetze in kausalen Zusammenhang gebracht, erklärt und vorhergesagt werden. Diese Vorstellung ist sehr attraktiv – um nicht zu sagen verführerisch: Dank immer umfangreicherem physikalischen Wissen verspricht Homo faber sich sogar von der Qual, Urteile und Entscheidungen aus ethischen und politischen Erwägungen heraus treffen zu müssen, befreien zu können.

David gegen Goliath: Ein Bauer zieht vor Gericht

Dieser Blogbeitrag greift ein aktuelles Beispiel auf, um die Grenzen dieses Weltbilds im Klimawandel zu verdeutlichen. Es ist die Geschichte von Saúl Luciano Lliuya. Lliuya ist Bauer in Huaraz im peruanischen Hochland, das episodisch von Schmelzwasser der Andengletscher geflutet wird. Als Folge einer verheerenden Flut im Jahr 1941 mit 6000 Todesopfern, wurde oberhalb der Stadt Huaraz ein Staubecken für das Schmelzwasser errichtet, welches nun um 3,5 Millionen Euro repariert werden soll, um das Wasser weiterhin kontrolliert abrinnen lassen zu können. Mitverantwortlich für das Schmelzen der Andengletscher macht Lliuya ausgerechnet die CO2-Emissionen des deutschen Energieriesen RWE.

Lliuya verklagt den deutschen Energiekonzern RWE.
Foto: APA/AFP/CRIS BOURONCLE

Vor dem Landesgericht Hamm in Nordrhein-Westfalen führt er nun seinen juristischen Kampf: Weil ein drohender Dammbruch die Existenz tausender Huaracinos am Fuße des Gebirges bedroht, verklagt der Bauer den Konzern auf 17.000 Euro Schadenersatz, den errechneten Anteil, für den der Konzern bei der Reparatur des Schutzdamms aufkommen solle. Unterstützt wird Lliuya nicht nur von der deutschen Umweltorganisation Germanwatch und einer ambitionierten Anwältin, ihm ist der moralische Beistand der Bevölkerung gewiss. Zudem zählt er die Naturwissenschaften zu seinen vermeintlichen Unterstützern.

Naturgesetze, Kausalketten und Wahrscheinlichkeiten

Denn die Anklage setzt voraus, dass Naturgesetze immer und überall gültig und anwendbar sind und dass grundsätzlich alles kalkuliert oder zumindest in Kausalketten erklärt werden kann. Dieses naturdeterministische Prinzip funktioniert in den meisten Bereichen auch wunderbar: Beispielsweise erklären die thermodynamischen Gesetze, warum kochendes Wasser verdampft, die Photosynthese beschreibt, wie mittels Sonnenenergie aus energiearmen energiereiche Moleküle werden und die absorbierenden Eigenschaften von CO2 besagen, dass die Temperaturen mit der atmosphärischen CO2-Konzentration steigen müssen. Je weiter man aber der Kausalkette zwischen physikalischen Ereignissen, die solchen Naturgesetzen unterliegen, folgt, desto unsicherer werden Zusammenhänge. Dass trifft insbesondere auf das offene und chaotische Erdsystem zu. So lässt sich etwa von keinem Wetterereignis mit Gewissheit sagen, dass es vom Menschen verursacht wurde. Ein Kausalzusammenhang kann nicht mehr hergestellt werden – ein menschlicher "Fingerabdruck" im Wettergeschehen ist immer mehr oder weniger wahrscheinlich. Heute, im Klimawandel, ist er viel wahrscheinlicher als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Ebenso wenig kann ein kausaler Zusammenhang zwischen den Emissionen des Konzerns RWE und der Andengletscherschmelze nachgewiesen werden. Das ist ein wichtiges Detail in der Klage. Denn die conditio sine qua non gilt auch hier: Sie ist die notwendige Bedingung für eine bestimmte Tatsache, die als Ursache gilt. Lliuya müsste nachweisen können, dass die Gletscher oberhalb Huaraz ohne den CO2-Emissionen des Konzerns weniger stark geschmolzen wären. In einer Fachzeitschrift für Gletscherkunde ließe sich diese These nicht veröffentlichen. Und doch möchte Lliuyas Anwältin Roda Verheyen über die wissenschaftliche Beweisführung die Summe von 17.000 Euro erstreiten. Da die Andengletscherschmelze eine Folge der Erderwärmung ist, müsse RWE anteilig für entstandene Schäden beziehungsweise Zahlungen aufkommen: 17.000 Euro sind zirka 0,47 Prozent von 3,5 Millionen Euro, die eine Reparatur jenes Damms, welcher Huaraz vor dem Schmelzwasser schützt, kosten würde. 0,47 Prozent ist jener Anteil an weltweiten CO2-Emissionen, für den, laut – den immer anfechtbaren – Berechnungen eines Wissenschafters, RWE verantwortlich zeichnet.

Jeder gegen jeden

Die Einbeziehung der Gerichte in die Klimapolitik ist einerseits die Konsequenz einer unzureichenden Verrechtlichung letzterer: Aus Angst ihre Wähler zu vergraulen setzen Politiker bevorzugt auf Anreize statt auf Regulierung. Andererseits zeigt der Prozess welch seltsame Blüten das naturdeterministische Denken treiben kann. In der legalistisch geprägten politischen Kultur der USA gibt es viele hundert ähnlicher Klagen. Jene, die sich explizit auf Kausalzusammenhänge beziehen, sind Auswuchs eines in die Jahrhunderte gekommenen Weltbilds, zu dem in der 2005 erschienenen Potsdamer Denkschrift von renommierten Geografen, Physikern und Philosophen geschrieben steht: "Die weltweit wahrnehmbaren vielfältigen Krisen (...) sind Ausdruck einer geistigen Krise unserer Zeit, die mit unserem weltweit favorisierten materialistisch-mechanistischen Weltbild und seiner Vorgeschichte zusammenhängen." Der Versuch, vor Gericht für "Klimagerechtigkeit" – ein normatives, im Bereich der Legislative angesiedeltes politisches Konzept – zu sorgen, kann als Ausdruck dieser geistigen Krise verstanden werden, weil er auf einem Weltbild gründet, in dem prinzipiell alles über Naturgesetze berechnet und in kausalen Zusammenhang gebracht werden kann. Wäre das möglich, könnte im Klimawandel jeder jeden klagen. Die Macht verlagert sich von Legislative und Exekutive in Richtung Judikative und Wissenschaft – mit unklaren Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit letzterer.

500 Jahre nach der kopernikanischen Wende stößt auch der Naturdeterminismus an seine Grenzen.
Foto: Public Domain

Politischer Protest

Lliuyas Klage könnte als spektakulärer politischer Protest gegen rücksichts- und maßloses Profitstreben interpretiert werden. Angegriffen wird mit RWE schließlich der größte Energieanbieter Deutschlands und nicht etwa der zweitgrößte oder drittgrößte – auch keine Kohlegrube im Erzgebirge. Während Protest und moralische Anklage somit in erster Linie auf die Größe, die damit verbundene Macht und die Interessen des Konzerns abzielen, konzentriert sich die juristische Anklage im Sinne einer Klimagerechtigkeit auf CO2, was dem naturdeterministischen Glauben, die Wissenschaft könne dem Rechtsstaat in diesem Urteil leiten, geschuldet ist. Dass das Zivilgericht Hamm nicht zugunsten des Bauern urteilen dürfte, ist den Klägern bewusst. Sie erhoffen sich zumindest einen Imageverlust von RWE und der Kohleindustrie.

In Anbetracht der Ohnmacht des Bauern gegenüber der Macht des Energieriesen ist der gewählte Gang vor Gericht verständlich. Gerichte sollen (mächtige) Akteure zur Verantwortung ziehen können. Auch die moralische Unterstützung besorgter Mitbürger ist nachvollziehbar. Doch wird sein Weg erfolgreich sein? Vermutlich nicht. Die Richter sollten nach Sachlage, nicht aktivistisch urteilen.

Lliuya wird in Deutschland von Klimaaktivisten unterstützt.
Foto: APA/AFP/PATRIK STOLLARZ

Demokratiepolitische Innovationen

Und doch lässt sich aus dieser David-gegen-Goliath-Geschichte eine Kritik am Zustand der repräsentativen Demokratie ableiten, in der Großkonzerne Interessen oft leichter durchsetzen als Bürgerinitiativen sich Gehör verschaffen können. Dazu die These: In einer partizipativeren (und daher repräsentativen) Demokratie könnte kein einzelner Akteur jemals jene Machtfülle erlangen, die mit der Klage Lliuyas moralisch verurteilt wird. Sogenannte Bürgerparlamente, wie sie weltweit bereits vielerorts implementiert werden und sogar bei der österreichischen Nationalratswahl 2017 wählbar waren, wären eine Art deliberatives demokratisches Korrektiv. Mehr noch: Gesellschaftliche Innovationen versprechen einen erfreulicheren Effekt auf den Ressourcenverbrauch zu haben, als eine auf CO2 fixierte Politik, die keine gesellschaftspolitischen Visionen vorbringt.

Warum dieser These der gesellschaftlichen Innovationen wenig Vertrauen geschenkt wird, liegt alleine daran, dass der CO2-Effekt dieser Politik nicht berechnet – determiniert – werden kann. Weil Homo faber die vermeintliche Sicherheit der Zahlen und der kausalen Zusammenhänge fehlt. Zudem kommt sie ohne der politisch opportunen und emotional aufgeladenen Unterscheidung zwischen "Klimasündern" und "Klimageschädigten" aus. In der These ist CO2 kein Hebel zur gezielten Veränderung der physikalischen Welt, etwa um ein Temperaturziel anzusteuern, die Emissionsreduktion ist vielmehr ein willkommener Nebeneffekt sozialer Innovationen. Der Klimawandel kann somit als Möglichkeit zur Veränderung des menschlichen Selbstbildes und der Beziehung des Menschen zur Welt interpretiert werden. Ähnlich ist die Erkenntnis des Homo faber aus Max Frischs gleichnamigem Roman – allerdings zu spät: todkrank beschließt er sein Leben zu ändern. (Mathis Hampel, 29.1.2018)

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