Ist wegen der NS-Liedgut-Affäre seiner Burschenschaft Germania in Bedrängnis geraten: Udo Landbauer, Spitzenkandidat der FPÖ bei der Landtagswahl in Niederösterreich.

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Liederbücher, in denen Wünsche nach der Fortsetzung der Shoah geäußert werden, und ein FPÖ-Spitzenkandidat, der in diese Geschichte verwickelt ist: Zu Recht macht man sich hier Sorgen um den antifaschistischen Grundkonsens in der Gesellschaft. Diese Einigung, dieser Knotenpunkt innerhalb der Gesellschaft, sollte nicht infrage gestellt werden dürfen. Doch passiert genau das nicht zum ersten und wahrscheinlich nicht zum letzten Mal in Österreich.

Die Sache mit dem gesellschaftlichen Konsens ist aber nicht immer so einfach. Oft wird geglaubt: Einmal erreicht, könne ein Konsens nicht wieder aufgehoben werden. Einmal auf grundlegende Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens geeinigt, könnten diese nicht wieder aufgeweicht werden. Die aktuellen Beispiele aus der Innenpolitik zeigen wieder einmal, dass das nicht so einfach ist.

Immerwährender Konflikt

Die Antwort auf die Frage, wie stabil ein Konsens nun tatsächlich ist, kann teilweise durch poststrukturalistische politische Theorie gegeben werden. Hier der Versuch eines kurzen und hoffentlich verständlichen Exkurses. Zunächst zum Begriff des Sozialen: Das Soziale hat keinen Anfang und kein fixiertes Ende. Man verabschiedet sich also von der Annahme, dass eine Gesellschaft irgendwo einen Ursprung haben kann. Keine gesellschaftliche Einigung ist daher zwangsläufig von Dauer. Was in dieser Konzeption vorherrscht, ist der Konflikt.

Bevor darauf weiter eingegangen werden kann, ist der Begriff des Politischen zu klären. Jegliches Verhalten ist politisch. Das bedeutet, dass jeder Akteur im unabgeschlossenen Bereich des Sozialen politisch agiert, entweder reproduzierend oder kritisierend.

Diese Immanenz des Politischen ist umso bedeutender, bezieht man sie auf gesellschaftliche Konflikte. Eigentlich kann man sagen, dass sich diese Konflikte um die Frage drehen, wer recht oder unrecht hat. Nicht aber unmittelbar in einer spezifischen Frage. Es geht eher darum, festzulegen, was als Recht und Unrecht gelten kann. Der Konflikt dreht sich also um Deutungshoheit innerhalb des Sozialen. Wie stark an der Aufrechterhaltung oder Abschaffung einer gewissen Deutungshoheit gearbeitet wird, bestimmen die politischen Akteure – somit also jede und jeder.

Ständige Herausforderung

Was kann man nun daraus schließen? Im von Konflikt beherrschten sozialen Bereich agiert also jede und jeder auf eine gewisse Weise politisch. Die Wirkung jeglichen politischen Verhaltens zeigt sich in der Wahrnehmung von Knotenpunkten, die durch soziale Interaktion geschaffen wurden. Diese Knotenpunkte können Definitionen von Freiheit, die Konstruktion eines Volkes oder die Menschenrechtskonvention sein.

Werden diese Konzepte nicht kritisiert und herausgefordert, wird sich an ihrer Position in der Gesellschaft nichts verändern. Prinzipiell lässt der soziale Konflikt aber die Möglichkeit offen, soziale Definitionen zu kritisieren und mit genügend Aufwand auch umzudeuten.

Zurück zum eingangs erwähnten antifaschistischen Grundkonsens. So stark verankert – oder auch nicht – er in einer Gesellschaft auch zu sein scheint, dieses soziale Arrangement kann herausgefordert und kritisiert werden. Das Ziel hinter diesem Vorhaben ist die Umdeutung dieses Konsenses.

Wenn also Nazi-Propaganda in Liederbüchern von Verbindungen auftaucht, weiß man zunächst, dass der Grundkonsens nicht so grundsätzlich ist, wie man sich vielleicht wünschen mag. Wenn dann versucht wird, diese Inhalte zu beschönigen, zu entschuldigen und als unbedeutend abzutun, wird aktiv daran gearbeitet, die Akzeptanz der Inhalte und der damit verbundenen Personen zu erhöhen. Am Ende dieser Strategie steht die gesellschaftliche Normalität.

Politisches Verhalten

Die verurteilenden Stimmen, die Boykotte und andere Konsequenzen, die nun gezogen werden, verteidigen den fragilen antifaschistischen Grundkonsens. Dass es auch dazu wieder Gegenstimmen gibt, ist zu erwarten. Etwas scheint sich aber noch nicht weit genug herumgesprochen zu haben: Auch kein Verhalten ist politisches Verhalten.

Keine Reaktion, keine Verurteilung und keine Konsequenzen von relevanten gesellschaftlichen Akteuren vermittelt einer breiten Masse vor allem eine Botschaft, nämlich jene, dass diese Art von Entgleisung normal sei. Dass nationalsozialistische Inhalte wieder akzeptabel seien. Und dass es diesen fragilen antifaschistischen Grundkonsens nicht länger benötige. Genau das ist die Herausforderung, der vor allem politische Akteure jetzt begegnen müssen. (Benedikt Seisl, 26.1.2018)