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"Wenn man von der Ersten Republik spricht, kann man gar nicht oft genug auch vom Ersten Weltkrieg als deren prägendem Faktor sprechen": Kundgebung anlässlich der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 vor dem Parlamentsgebäude in Wien.

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Alfred Pfoser: Nicht die Nationalitätenkonflikte, sondern Krieg und Paranoia haben der Donaumonarchie den Garaus gemacht.

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STANDARD: Herr Pfoser, in dem 2017 erschienenen Buch "Habsburg – Geschichte eines Imperiums. 1740–1918" stellt der US-Historiker Pieter Judson die These in den Raum, das Habsburgerreich hätte nach 1918 womöglich Überlebenschancen gehabt. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Pfoser: Judsons Buch ist anregend, seine Analyse des Ersten Weltkrieges ist klug, aber was die angesprochene Einschätzung von der Überlebensfähigkeit der Donaumonarchie betrifft, so bin ich etwas skeptisch. Wenn sich die Donaumonarchie zu einem nur losen Verbund verschiedener Staaten hin entwickelt hätte, wie das auch von den Sozialdemokraten vorgeschlagen wurde, wo wäre da überhaupt die Einheit dieses Reiches gewesen? Ich stimme dagegen mit Judsons Einschätzung überein, dass es keineswegs die Nationalitätenkonflikte waren, die der Donaumonarchie den Garaus gemacht haben. Es waren der Krieg und die Paranoia in seinem Gefolge. Wenn man von der Ersten Republik spricht, kann man gar nicht oft genug vom Ersten Weltkrieg als deren prägendem Faktor sprechen.

STANDARD: Ihr gemeinsam mit Ihrem Kollegen Andreas Weigl verfasstes neues Buch ist wie eine Art Triptychon aufgebaut, die drei Teile tragen die Titel "Niederlagen", "Aufbrüche" und "Kulturkämpfe". Im ersten Teil werden die Hypotheken thematisiert: Hunger, Kälte, Massensterben. Mit der Aufbruch-Passage lag Ihnen daran, das Positive an der Ersten Republik zu akzentuieren. Wo finden Sie das?

Pfoser: Wenn man Österreich mit Deutschland, Italien oder Ungarn vergleicht, wo es nach dem Krieg und die ganzen 1920er-Jahre hindurch wilde Kämpfe und blutige Konflikte sonder Zahl gegeben hat, muss man konstatieren, dass in Österreich viel Richtiges passiert ist. Vieles war tragfähiger als etwa in der Weimarer Republik. Nehmen wir das Heer. Hier hat die Regierung nicht zugelassen, dass die alten Offiziere die neuen Kommandostellen der Volkswehr übernommen haben, sondern ausschließlich jüngere Offiziere eingesetzt, die schon auf den neuen Staat eingeschworen waren, also Leute wie Theodor Körner oder Julius Deutsch. Conrad von Hötzendorf wurde draußen gehalten, in Deutschland konnten sich die Ludendorffs halten. Das hat sich als verhängnisvoll erwiesen, hat etwa zum Kapp-Putsch 1920 geführt und dazu, dass die Wehrmacht immer auch ein Gegenreich zur Republik war. Sehr speziell war auch die Art, wie man sich des Kaisers Karl entledigt hat. Man hat ihn nicht direkt ins Exil geschickt, sondern den Druck so aufgebaut, dass er schließlich selbst die Konsequenzen zog. Man kann das auch als eine österreichische Geschichte der Gewaltlosigkeit sehen. Trotz aller Ohnmacht war Österreich auch ein "felix Austria".

STANDARD: Wenn wir 1918 und die Erste Republik aus der Distanz von 100 Jahren betrachten, was fällt Ihnen da spontan an Parallelen auf?

Pfoser: Was ich interessant als Parallelen zur Gegenwart finde, ist eine gewisse Gebrochenheit der ÖVP. Die Machtbasis der Christlichsozialen lag in den Ländern, wo man mit absoluten oder satten relativen Mehrheiten reagiert hat und es eine Kontinuität von festgelegten Machtblöcken gab. Der Bund war im Vergleich dazu ein Durchhaus. Der Antagonismus von Bund und Ländern war sicher ein stabilisierendes Element für die Republik, aber verursachte auch eine Menge Probleme. Zuerst richtete sich der Föderalismus gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung, dann musste die christlichsoziale Bundespolitik erleben, dass auch sie von den Störmanövern der Länder (Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg) betroffen war. Nicht ohne Grund waren Ignaz Seipel die Föderalisten in erheblichem Maße zuwider.

STANDARD: Derzeit halten sie sich angesichts eines populären Bundeskanzlers ziemlich zurück.

Pfoser: Die Frage ist, wie das auf längere Sicht gehen wird.

STANDARD: Die Kulturkämpfe, mit denen Sie sich auseinandersetzen, wurden mit großer Vehemenz und mit harten Bandagen geführt ...

Pfoser: Österreich war immer schon ein Versuchslabor des Populismus. Die Lueger-Jahre wurden, von Carl Emil Schorske etwa oder Brigitte Hamann, sehr gründlich unter diesem Aspekt analysiert. Was weniger in der kollektiven Erinnerung ist, ist, dass auch die Gründungsjahre der Republik Jahre der Hochblüte des politischen Populismus waren.

STANDARD: Wer waren die treibenden Kräfte?

Pfoser: In erster Linie die alten Eliten, die mit dem Kaiserhaus verbandelt gewesen waren. Die Christlichsozialen waren quasi als Fahnenschwinger für einen verhassten Krieg diskreditiert und standen nun 1918 vor der Frage: "Wie kommen wir aus dieser Falle heraus?" Und sie haben es geschafft, aus der Falle herauszukommen. Die Wahlen im Februar 1919 waren ungemein spannend, man wusste ja nicht, ob es zu einem Erdrutschsieg für die Sozialdemokraten kommen würde. Aber es sind Hebel gefunden worden, um die Sache zu drehen und 1920 die Sozialdemokraten dann überhaupt auf den zweiten Platz zu verweisen.

STANDARD: Was sind für Sie die wesentlichen Komponenten dieses Populismus avant la lettre?

Pfoser: Die eine Geschichte war der Antisemitismus, der schon, halb unterdrückt von der Zensur, im Krieg mit der Propaganda gegen Kriegsgewinnler, welche man pauschal als "jüdisch" bezeichnete, und gegen die galizischen Flüchlinge wiederbelebt wurde. Nach dem Krieg, als die Presse frei und somit auch die Hetze erlaubt war, wurde alles Mögliche unter dem Begriff "jüdisch" subsumiert: Die Entente war jüdisch, der Bolschewismus, Wien und die Sozialdemokratie, als Kampfbegriff war das beliebig einsetzbar. Dazu kam die Furcht vor den ostjüdischen Flüchtlingen, deren Anzahl realitätswidrig auf 300.000 emporstilisiert wurde und von denen als "Schmarotzern" die Rede war. Betroffen war von diesem massiven Antisemitismus auch die künstlerische Prominenz der Wiener Moderne: Arthur Schnitzler geriet wegen des Professor Bernhardi und des Reigens in den Mittelpunkt einer Staatsaffäre, Karl Kraus war in Innsbruck mit deutschnationalen Krawallen konfrontiert. Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal bekamen den Antisemitismus bei den Salzburger Festspielen zu spüren. Eine zweite Schiene in den Kultur- und Identitätskämpfen setzte auf den Gegensatz zwischen dem Land und dem "verderbten" Roten Wien. Und es gab den Schulterschluss von Christlichsozialen und Kirche, die unter der Parole "Die wollen uns unseren Herrgott wegnehmen" zusammenfanden.

STANDARD: Wieso hatte die Sozialdemokratie solche Schwierigkeiten, dem etwas entgegenzusetzen?

Pfoser: Unter anderem, weil sie mit dem Vorwurf, sie begünstige ostjüdische Flüchtlinge, nicht umgehen konnte. Da war eine große Hilflosigkeit bemerkbar, weil sich die Sozialdemokratie im Grunde als eine Integrationspartei verstand, für die der Antisemitismus ein billiger Propagandatrick war. Wie dem gegensteuern, zumal viele prominente Sozialdemokraten selbst jüdischer Herkunft waren? So versuchte die Partei in einem Zickzackkurs den Antisemitismus in einen Antikapitalismus zu drehen.

STANDARD: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Desiderate bei der historischen Erforschung der Jahre 1918 ff.?

Pfoser: Es ist interessant, dass die wichtigsten Bücher österreichischer Historiker über die Erste Republik aus den 1970ern stammen. Das heißt nicht, dass es nicht bemerkenswerte Monografien aus späterer Zeit gäbe, etwa über den Juristen der Habsburgergesetze, die spannende Frage der Staatsbürgerschaften und den Kampf der Kriegsinvaliden um ihre Rechte. Aber kein Österreicher hat in den vergangenen Jahrzehnten ein wirklich umfassendes Werk über den für diese Republik so elementaren Friedensvertrag von St. Germain geschrieben. Ich erkläre mir das damit, dass die Beschäftigung mit der Nazizeit viel Forschungsenergie absorbiert hat.

STANDARD: Bleibt die Erste Republik für Sie ein Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung?

Pfoser: Auf jeden Fall. Ich interessiere mich momentan sehr für die Brüche und Kontinuitäten auf dem Gebiet der Kultur nach der Auflösung der Donaumonarchie. Es herrschte Hungersnot in Wien, die Gaszufuhr in den Haushalten wurde gedrosselt, Schulen wegen Kohlemangels gesperrt, gleichzeitig bemühte sich die neue Staatsführung im dunklen Dezember 1918, die Theater und Kinos offenzuhalten und das Signal auszusenden: "Alle Widrigkeiten dürfen unseren Kulturhabitus nicht zerstören." Daran hat auch die Sozialdemokratie mitgearbeitet. (Christoph Winder, 30.1.2018)