Das Landhaus im St. Pöltner Regierungsviertel.
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PRO: In die Pflicht nehmen

Wer das Wesen des Proporzes verstehen will, muss weit in die Geschichte unserer Republik zurückgehen. Muss sich in Erinnerung rufen, wie Klassenkampf und Reaktion das Klima bis hin zu Bürgerkrieg und Diktatur vergiftet haben – und muss sich auch daran erinnern, dass die österreichische Politik in den Jahren nach 1945 durchaus Lernfähigkeit bewiesen hat.

Aus schlimmer Erfahrung heraus hat man damals beschlossen, alle in die Pflicht zu nehmen, die eine gewisse demokratische Legitimation erreicht haben. Noch nach der Nationalratswahl 1966, bei der die ÖVP mit absoluter Mehrheit ausgestattet wurde, hat man wochenlang über eine große Koalition verhandelt. Diese ist zwar nicht zustande gekommen; das Prinzip, den jeweiligen politischen Gegner in Entscheidungen einzubinden und bei Postenbesetzungen auch die Exponenten der in der Minderheit befindlichen Parteien adäquat zu berücksichtigen, hat aber auch die Alleinregierungen von Josef Klaus (ÖVP, 1966–1970) und Bruno Kreisky (SPÖ, 1970–1983) überdauert. In den Bundesländern blieb es sogar lange als Grundsatz der Regierungsbildung, in Niederösterreich bis heute.

Das hat nichts mit Großzügigkeit der Mehrheitspartei zu tun. Der Proporz stellt nämlich Vertreter aller daran beteiligten Parteien ins Scheinwerferlicht: Jeder kann sehen, welche Typen mit welcher Qualifikation von der Partei X oder Y in verantwortungsvolle Positionen gesetzt werden. (Conrad Seidl)

KONTRA: Die verhinderte Opposition

Wenn die ÖVP Niederösterreich die Proporzregierung verteidigt, tut sie das aus Eigeninteresse. Jede Partei ab einer gewissen Größe sitzt in der Landesregierung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es in Niederösterreich nie eine starke Opposition geben kann. Gerade in der letzten Bastion der absoluten Mehrheit wäre das aber notwendig.

Noch dazu, wo die Minderheitenrechte im Landtag trotz Reform ausbaufähig bleiben: Der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses etwa muss ein Drittel der Abgeordneten zustimmen. Damit ist ausgeschlossen, dass das gegen den Willen der Landesregierung passiert. Die freie Regierungsbildung hat sich in entwickelten Demokratien bewährt: Die Bevölkerung wählt ein Parlament, das sie repräsentiert. Die Regierung wird flexibel gebildet, stützt sich meist auf eine stabile Mehrheit im Parlament und muss sich dem Widerspruch der Opposition stellen.

Mit dem Automatismus geht außerdem ein Regulativ verloren: 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben am Sonntag einen Kandidaten gewählt, der sich mit Antisemiten zumindest umgeben hat – eine Zusammenarbeit auf Regierungsebene mit ihm kann die Landeshauptfrau nur bedingt vermeiden, wenn ihn seine Partei in die Regierung wählt. Wenn Johanna Mikl-Leitner nicht will, dass Menschen mit Berührungspunkten zu Extremismus in der Regierung sitzen, muss sie ihren Widerstand gegen eine echte Demokratiereform in Niederösterreich aufgeben. (Sebastian Fellner, 29.1.2017)