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Viktor Orbán fordert die Ungarn mit viel nationalem Brimborium auf, zufrieden zu sein. In den Zahlen findet sich allerdings keine Basis dafür.

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Zwei Monate vor den Parlamentswahlen in Ungarn am 8. April läuft die volksverdummende und hassbeladene Regierungskampagne auf Hochtouren. In der Tat gibt es oberflächlich positive wirtschaftliche Daten: Das Bruttosozialprodukt stieg um mehr als vier Prozent im Vorjahr, der (schöngeschminkte) öffentliche Haushalt weist ein Defizit klar unter der Drei-Prozent-Grenze auf, die (offizielle) Arbeitslosigkeit ist auf einen 30-jährigen Tiefstand gesunken, und die Löhne sind in den meisten Bereichen eindeutig gestiegen. Deshalb sollten die Ungarn, laut Ministerpräsident Viktor Orbán, stolz auf die Ergebnisse und insbesondere darauf sein, dass sie bereits auf eigenen Beinen stehen und auf keine EU-Gelder angewiesen sind.

Doch die Realität sieht ganz anders aus: Nur EU-Gelder (22 Milliarden Euro zwischen 2014 und 2020) haben jährlich ein Wachstum von drei bis fünf Prozent schaffen können, ohne dass sich irgendetwas in der ungarischen Wirtschaft bewegt hat. Wären diese Gelder in wettbewerbsfähige und selbsterhaltende Investitionen geflossen, stünde Ungarn heute vor einer stabilen und nachhaltigen Wachstumsperiode. Auch der öffentliche Haushalt weist ein tiefes Minus auf, da ein Großteil der EU-Gelder über das Budget umverteilt wurde.

Exodus der Gebildeten

Der niedrige Arbeitslosenstand ist eindeutig verbunden mit der Emigration von etwa einer halben Million tatkräftiger, meist gut ausgebildeter und anpassungsfähiger Ungarn, die das Land nach 2010 verlassen haben. Dieser Exodus lässt sich nicht nur durch bessere Einkommen erklären, denn diese gab es auch schon vor 2010, wo etwa 100.000 Ungarn ihre Zukunft im Ausland suchten. Die Motivation, das Land zu verlassen, begründet sich aus ganz anderen, teilweise nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gründen.

Darüber hinaus rechnet die offizielle Statistik auch die große Schicht der periodisch beschäftigten "öffentlichen Arbeitnehmer" ein. Dieses Programm, das fast vollkommen aus EU-Geldern finanziert wird, öffnet keine Tür zur normalen Arbeitswelt, sondern verschärft weiter Aussichtslosigkeit und schockierende Marginalisierung breiter Bevölkerungsteile. Jahrelang verspätete Lohnerhöhungen haben bereits erhebliche Spannungen zwischen unterschiedlichen Berufskategorien und Ausbildungsstufen geschaffen. Ein Großteil der Wirtschaftsleistung ist zudem eindeutig verbunden mit dem Geldtransfer von im Ausland arbeitenden Ungarn, der im Jahr 2017 vier Milliarden Euro oder 3,5 Prozent des Volkseinkommens erreichte. Im Jahresdurchschnitt fließt ein ähnlicher Betrag aus dem EU-Kohäsionsfonds pro Jahr nach Ungarn.

Spätestens ab 2007, als Ungarn vollwertigen Zugang zu den EU-Geldern bekam, eröffnete sich eine historisch einmalige Modernisierungschance für die ungarische Wirtschaft und Gesellschaft. Nur die EU-Kohäsionsquelle hat einen Geldfluss von 45 Mrd. Euro (oder jährlich wenigstens drei Prozent des Bruttosozialproduktes) ermöglicht. Wo ist dieses Geld geblieben? Offensichtlich hat es – sogar statistisch – wenig zum Wachstum beigetragen, ganz zu schweigen von der Stärkung nachhaltiger Wettbewerbs- und Anpassungsfähigkeit. Der Großteil wurde für Projekte verwendet, die kein nachhaltiges Wachstum schaffen. Dagegen erzeugen sie laufende Unterhaltungskosten, die den nationalen Haushalt belasten, da für solche Kosten keine EU-Gelder zur Verfügung stehen.

Die unternehmerische Tätigkeit wurde total verzerrt interpretiert. Anstatt den mit finanziellen Problemen (und zunehmend auch Arbeitskräftemangel) geprägten Klein- und Mittelbetrieben auf die Beine zu helfen, ist das Geld im Kreise der neuen "Unternehmerschicht" verteilt worden und abhandengekommen. Man kann ohne Übertreibung behaupten (und beweisen), dass der Großteil der EU-Gelder den wirtschaftlichen Hintergrund eines politischen Mafia-Staates geschaffen hat. War das das Ziel der EU-Behörden oder die Priorität der EU-Bürger, die mit ihren Steuern zum EU-Geldsegen in Ungarn beigetragen haben? Die Lage ist umso paradoxer, weil die EU-Gelder ein System unterstützt haben, das die Grundwerte der EU seit acht Jahren bewusst und unverantwortlich herausfordert oder offen verletzt und EU-Feindlichkeit zur offiziellen Regierungspolitik gemacht hat (z. B. die Propagandakampagne "Stoppen wir Brüssel").

Polarisierte Gesellschaft

Noch schwerwiegender sind die verursachten Kosten infolge rücksichtsloser Vernachlässigung von Investitionen in Bildung und Gesundheitswesen sowie die schonungslose Polarisierung der Gesellschaft. Beides sind Grundfaktoren der nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit. Diese wiederherzustellen ist mit enormen materiellen und sozialen Kosten verbunden, selbst wenn die rasante globale Entwicklung dazu die notwendige Zeit gewähren würde.

Die einmalige historische Sünde liegt jedoch in der mentalen Verschmutzung der ungarischen Gesellschaft, die in manchen Teilen als mentaler Massenmord gekennzeichnet werden kann. Nicht nur in der "entwickelten Welt" wurde erkannt, dass Investitionen in die innovative Gesellschaft der Schlüssel für die hoffnungsvolle Gestaltung der Zukunft sind. Die ungarische Regierung hat stattdessen die Uhren zurückgedreht. Innovation ist keine technologische, nicht einmal eine wirtschaftliche Kategorie, sie ist ganz klar eine soziale. Nur Gesellschaften, die offen und solidarisch sind, die die notwendige Kohäsion beibehalten oder schaffen, die sich in die Zukunft orientieren, Anpassungsfähigkeit erhöhen und in den sich laufend manifestierenden inneren und äußeren Herausforderungen die Aufmerksamkeit mehr auf Chancen als auf potenzielle Kosten und Risiken richten, werden in der sich beschleunigt entwickelnden und ändernden globalen Umwelt mit Erfolg (oder überhaupt) überleben können.

Abschottungspolitik

Ganz anders ist es in Ungarn: Hier sperrt man sich gegen die Öffnung, fährt Hasskampagnen gegen ausgewählte Feinde, statt Solidarität, schürt soziale Polarisierung, statt Kohäsion zu stärken, flieht in die (bei weitem nicht immer glorreiche) Vergangenheit, statt gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen anzugehen. Hass, Feindseligkeit und Abschottung untergraben unterstützt von einer falschen Ideologie des "nationalen Stolzes" und einer massiven Gehirnwäsche die Grundlagen der (positiven) Anpassungsfähigkeit des Landes. Eines Landes, das mit der Außenwelt organisch verbunden ist und 0,7 Prozent des EU-Bruttosozialproduktes herstellt. Um diese Anpassungsfähigkeit wiederherzustellen, braucht man vielleicht eine ganze Generation. Die Parlamentswahlen im April werden vor allem darüber entscheiden, ob diese historische Chance überhaupt offenbleibt. Deswegen geht es nicht nur um Wahlen, sondern im echten und ernstesten Sinne des Wortes: um DIE WAHL.(András Inotai, 29.1.2018)