3.580 Flüchtlinge und Migranten sind im Jahr 2018 in Italien angekommen.

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Allein am vergangenen Samstag wurden bei fünf verschiedenen Einsätzen in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste rund 850 Flüchtlinge gerettet. Mindestens drei Frauen aus Afrika sind laut der italienischen Küstenwache ertrunken; weitere 30 Personen wurden vermisst. Bei einem der Rettungseinsätze war auch das Schiff Aquarius der Hilfsorganisation SOS Méditerranée dabei, die mit der italienischen Küstenwache zusammenarbeitet.

Die Besatzung sprach von "schrecklichen Szenen": Es seien so viele Menschen im Wasser gewesen, dass man "überall gleichzeitig" hätte sein müssen. Vier Babys seien bereits bewusstlos im Wasser getrieben und wurden reanimiert; zwei Mütter seien vor den Rettern ertrunken.

Alarmbereitschaft in Rom

Die Ereignisse vom Samstag sind der Beleg für eine Entwicklung, die das italienische Innenministerium wieder in Alarmbereitschaft versetzt hat: Die sogenannte Mittelmeerroute von Libyen nach Sizilien und Kalabrien ist von den Schlepperbanden wieder reaktiviert worden. Dank diverser Abkommen mit der ziemlich wackeligen Regierung des libyschen Premiers Fayez al-Serraj in Tripolis sowie mit diversen befreundeten Milizenführern und Bürgermeistern im Norden und im Süden des Landes, war es dem italienischen Regierungschef Paolo Gentiloni und seinem Innenminister Marco Minniti gelungen, den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer seit vergangenem Sommer drastisch zu reduzieren. Doch seit Anfang 2018 scheinen die libyschen Partner Italiens nicht mehr willens oder in der Lage zu sein, das Ablegen der Boote zu verhindern.

Die Folgen: Bis zum vergangenen Wochenende sind 2018 wieder 3.580 Migranten in Italien angekommen. Das sind deutlich mehr als im bisherigen Rekordjahr 2016, in dem bis zum 27. Jänner 2.668 Flüchtlinge registriert worden waren, und auch mehr als im vergangenen Jänner, als die italienisch-libyschen Abkommen noch nicht existierten und 2.790 Flüchtlinge ankamen. Laut italienischen Medienberichten sind in den ersten vier Wochen des Jahres 2018 auch wieder mindestens 230 Menschen auf der Mittelmeerroute ertrunken. Insgesamt waren in Italien im Rekordjahr 2016 rund 181.000 Flüchtlinge angekommen; im vergangenen Jahr waren es noch knapp 120.000 gewesen.

Libyens Premier unter Druck

Ob es sich beim plötzlichen, massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen bloß um einen "Ausreißer" oder bereits um eine Trendwende zurück zu den Zuständen von 2016 handelt, ist derzeit noch unklar. Fest steht, dass im libyschen Chaos der wichtigste italienische Partner, Fayez al-Serraj, unter Druck gekommen ist. Dies belegen die Angriffe von Milizen gegen den Flughafen der Hauptstadt Tripolis.

Möglich ist auch, dass einige der Milizenführer, die von Italien für die Bekämpfung des Schlepperwesens fürstlich bezahlt werden, die bevorstehenden Parlamentswahlen in Italien ausnützen, um den Preis für ihre Dienste weiter in die Höhe zu treiben, wie etwa die Zeitung La Repubblica spekuliert: Die Eindämmung der Flüchtlingsströme im vergangenen Jahr war einer der wichtigsten Erfolge der Mitte-links-Regierung von Paolo Gentiloni gewesen und dient im Wahlkampf als zugkräftiges Argument. Der Erfolg könnte schnell zum Bumerang werden, sollten die Flüchtlingszahlen in den verbleibenden fünf Wochen bis zu den Wahlen am 4. März hoch bleiben.

Die Präsidentin von SOS Méditerranée Italia, Valeria Calandra, betonte am Wochenende, dass die derzeit im Einsatz stehenden Schiffe der EU, der italienischen Küstenwache und der NGO nicht ausreichten, um die sich über 300 Seemeilen erstreckende Search-and-Rescue-Zone vor Libyen abzudecken. "Es besteht ein dringender Bedarf an zusätzlichen Einheiten; wir erneuern unseren Appell an die Regierungen Europas, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Tragödien ein Ende zu setzen." (Dominik Straub aus Rom, 31.1.2018)