Das umstrittene "Avenidas"-Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin.

Foto: imago/Reiner Zensen

Blumen und Frauen und Avenidas; die sollen derart entzweien? Das Gedicht Eugen Gomringers, eines Hauptvertreters der Konkreten Poesie, an einer Berliner Fassade ist eigentlich sehr schön, wie ich finde, mit seinem Rhythmus und dem wiederkehrenden A am Anfang der Avenidas. Einar Schleef sagte einmal zu Chorleuten, wenn sie nicht endlich verstehen, ein A zu sprechen, dann müssen wir jetzt nach Hause gehen und uns trennen. Also das kann man Gomringer nicht vorwerfen: Genug klingende A gibt es hier. Das Gedicht ist überlagert von einer anderen Debatte.

Die einen wollen beharrlich nicht gehört haben, dass hier ein Mann Frauen besingt. Das ist ja an und für sich schön, es ist eigentlich immer schön, wenn wer jemanden anderen besingt. Nur ist es eben die Position eines Herrn, der der Frau oder den Frauen die Pralinen am Wochenende bringt oder einen Arm voll Rosen. Ja, ja, auch das ist schön, so schön, dass man ganz krank davon werden kann, weil dieser Pralinenkasten mit fünf Pfund viel zu üppig ausgefallen ist, als dass die Schöne ihn aufessen könnte, oder der Blumenstrauß ist schon verwelkt, vor allem, weil die Schöne arbeiten gehen musste, was ihren Teint und ihre schönen Hände beschädigte. Vor allem weil sie länger arbeitete oder prekär und härter und geringer bezahlt als irgendein Mann.

Zurück ins Buch

Das erinnert mich an eine im vergangenen Jahr nichtöffentlich gehaltene Merkel-Runde, zu der ausschließlich Frauen geladen waren. Die Frauen sollten sagen, wie es ihnen ginge, und alle Damen erklärten, wie gut es ihnen ginge, bis auf eine, die hatte die Zahlen und Daten dabei und sprach von Geschlechterdiskriminierung in Deutschland. Die hatte dann das Treffen gewissermaßen verdorben, denn die Kanzlerin ist Physiker, ebenso wie Nora Gomringer sagt, noch oder wieder oder immer noch Dichter zu sein.

Die Freiheit der Kunst, die ist ja gegeben. Der Dichter konnte schreiben, was er wollte. Er konnte es publizieren, und es hat keiner verboten. Das ist auch schön. Jetzt aber will die Hochschule für Soziale Arbeit das Gedicht zuklappen, wegtun von der Fassade, gewissermaßen zurück ins Buch. Das ist eigentlich nichts Schlimmes. Die Bücher sind handlicher, und man kann in dem Lesefluss bleiben, der für den oder die Lesenden der richtige ist. Langsam, schnell, immer wieder oder überhaupt nicht.

Selbstbild der Frauen

Mit der Fassade verhält es sich anders. Hier steht das Gedicht im öffentlichen Raum. Andere wollen davon jetzt nicht mehr bespielt werden. Sie wollen diesen Text nicht täglich lesen. Manche spricht er nicht an oder nicht mehr, andere fühlen hier diese Geste des Herrn, dessen joviale Art gegenüber der Frau. Da hat sich das Selbstbild der Frauen inzwischen geändert, bis hin in den Sprachgebrauch hinein. Und nicht nur der Frauen, auch aller Menschen, die sich in dieser Weise weder ihnen noch den Männern zuordnen. Sodass wir Hallo sagen oder Guten Tag, Regina oder Benni statt Lieber oder Liebe, weil wir nicht wissen, ob das zugesprochene Sprech- oder Sprachgeschlecht das richtige ist. Weswegen zum Beispiel das Mount Holyoke College in USA nur noch eine Art Toilette anbietet, nicht mehr hier Männer, da Frauen. Von diesen Dingen hat die sich aufregende Kunstwelt offenbar entweder nichts gehört oder es interessiert sie nicht oder es wird als übertriebener Quatsch empfunden.

Die Freiheit der Kunst gegenüber der Freiheit der Meinung und des Schreibens im öffentlichen Raum. Warum sollte überhaupt nur der oder die Dichtende den öffentlichen Raum beschreiben? Wem gehört dieser Raum?

Jetzt gibt es junge Frauen, die die lüsternen Blicke satt haben und keine Lust mehr darauf und auf diese Art von Verehrung. Die Gegner dieses Gedicht-Verlassens – die Leute verlassen dieses Gedicht –, das sind ja die gleichen, die Gegner der #MeToo-Bewegung sein würden, wenn sie sich in Deutschland nur annähernd so entfalten würde. Dabei sind wir hier ebenfalls in ekelhafter Weise, besonders als sehr junge Frauen, von übergeordneten Männern angemacht und belästigt worden. Ich habe unter meinen Bekannten keine gefunden, der das nicht schon passiert wäre. Das muss man ja nicht für selbstverständlich oder für jede Generation von Frauen erneut für zumutbar halten.

Öffentlicher Streitraum

Equal Pay ist längst überfällig. Deutschland ist, was Frauenrechte betrifft, seit Jahren reformresistent, und da kann es doch sein, dass frau/werauchimmer dann solch ein "historisches" Gedicht eben nicht mehr so gut leiden kann. Wir singen auch weiterhin "Am Brünnlein vor dem Tore", aber doch mehr als Relikt und ganz und gar privat und weil die Musikschulen ... oder weil wir nichts anderes gelernt haben. Die Studierenden an dieser Hochschule haben aber inzwischen etwas anderes gelernt, und das ist ja sehr gut. Wir haben hier keinen kulturrevolutionären Akt vor uns, sondern die Mitteilung, dass der öffentliche Raum auch ein Streitraum ist, ein Raum, den auch nicht nur der Dichtende definiert, sondern Leute. Ganz unspektakulär hat die Hochschule mitgeteilt, dass ihr bei ihren turnusmäßigen Renovierungen der Fassade eine breite Palette großartiger Gegenwartslyrik zur Verfügung steht, aus der sie zukünftig rotierend schöpfen möchte. Da ist nun als Nächste eine Dichterin gewählt worden.

Es wäre schön, wenn vor allem auch in Leitungspositionen mit diesem Prozedere gleichgezogen würde, das wäre in der Wirtschaft so sinnvoll wie in den Betrieben der Kulturschaffenden. Insofern hat die Hochschule eine ihrer wichtigsten Aufgaben erfüllt: öffentliche Debatten anzuregen und sich zu bewegen. (Esther Dischereit, 7.2.2018)