Jahrtausendelang musste das Immunsystem des Menschen mit Wurminfektionen fertig werden. Das Fehlen der Parasiten könnte eine Erklärung für MS sein.

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Fritz Leutmezer ist Neurologe an der Med-Uni Wien und Vorstand der Multiple-Sklerose-Gesellschaft Wien.

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STANDARD: MS kann einen schubförmigen oder chronischen Verlauf nehmen. Handelt es sich um zwei verschiedene Erkrankungen?

Leutmezer: In etwa 85 Prozent verläuft sie schubförmig, in rund 15 Prozent handelt es sich um die primär progrediente Form. Wir gehen davon aus, dass beides entzündliche Erkrankungen sind. Die Entzündung bei der schubförmigen MS spielt sich mehr im Blut ab. Das heißt, es werden die weißen Blutkörperchen aktiviert, diese wandern ins Gehirn ein und verursachen so einen Schub. Bei der primär chronischen Form scheint es so zu sein, dass die Blut-Hirn-Schranke dicht ist und sich die Entzündung im Gehirn selbst abspielt. Das ist insofern relevant, als alle derzeit verfügbaren Therapien auf das periphere Immunsystem – die weißen Blutkörperchen im Blut – abzielen.

STANDARD: Warum erkranken Frauen häufiger als Männer?

Leutmezer: Das ist noch nicht klar. Möglicherweise sind genetische oder hormonelle Ursachen dafür verantwortlich. An der primär chronischen MS erkranken Frauen und Männer aber gleich häufig.

STANDARD: Sollen erkrankte Frauen eine Schwangerschaft vermeiden?

Leutmezer: Nein, es gibt keinen rationalen Grund, warum Frauen mit MS nicht schwanger werden sollten. Lediglich manche Immuntherapien, die bei der Behandlung der MS zum Einsatz kommen, dürfen während der Schwangerschaft nicht verwendet werden. Das ist aber auch nicht notwendig, da die MS während dieser Zeit ohnehin ruhiggestellt ist. Denn die Schwangerschaft per se schützt vor der MS. Die ersten sechs Monate nach der Entbindung steigt die Krankheitsaktivität aber wieder an. Für das heranwachsende Kind ist die MS-Erkrankung der Mutter nicht gefährlich.

STANDARD: Warum ruht die Krankheit während der Schwangerschaft?

Leutmezer: Die veränderte hormonelle Situation dürfte einen schützenden Effekt haben. Nach der Schwangerschaft sinkt das Östrogen, und das Immunsystem wird wieder aktiver. Damit steigt das Risiko eines irrtümlichen Angriffs auf körpereigene Nervenzellen wieder an.

STANDARD: Welche Rolle spielt Ernährung?

Leutmezer: Es gibt dazu eine interessante Studie aus Norwegen. Dort wurde beobachtet, dass im Landesinneren deutlich häufiger Menschen an MS erkranken als an der Küste. Einer der wenigen Unterschiede zwischen diesen beiden Populationen war, dass die Menschen im Landesinneren primär Fleisch aßen, während an der Küste vor allem Fisch auf dem Speiseplan stand. Ungesättigte Fettsäuren, wie sie im Fisch oder pflanzlichen Ölen enthalten sind, haben einen generell entzündungshemmenden Effekt. Fleisch und tierische Fette dagegen enthalten vor allem gesättigte Fettsäuren, die eine entzündungsfördernde Wirkung haben. Es gibt dazu bis heute zahlreiche Hinweise, aber letztlich keine Beweise, da es sich nur um Beobachtungsstudien handelt.

STANDARD: Kann MS über das Mikrobiom behandelt werden?

Leutmezer: Der Darm ist ein immunologisch extrem wichtiges Organ. Das Mikrobiom, also die Gesamtheit der Darmbakterien – aber auch Viren -, spielt hier sicher eine wichtige Rolle. So weiß man beispielsweise, dass MS-Patienten mehr Darmbakterien haben, die kurzkettige Fettsäuren abspalten, die dann ein entzündungsfreundliches Milieu erzeugen. Auf der anderen Seite ist das Mikrobion aber primär über die Ernährung beeinflussbar. Die Idee, dass man durch Probiotika oder Stuhltransplantationen das Mikrobiom ändert und genauso isst wie bisher, ist ein Trugschluss. Solange wir nicht mehr über den möglichen Einfluss des Mikrobioms auf die MS wissen, kann die Empfehlung daher nur lauten, weniger Fleisch und mehr Fisch bzw. pflanzliche Öle zu essen.

STANDARD: Vitamin D wird auch immer wieder im Zusammenhang mit MS genannt. Was ist dazu bekannt?

Leutmezer: Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle in der Erkrankungshäufigkeit. Im Norden ist die MS deutlich stärker verbreitet als im Süden. Dafür könnte die Sonneneinstrahlung und damit das Vitamin D verantwortlich sein. Auf der anderen Seite sind aber alle Studien, die den Einfluss einer therapeutischen Vitamin-D-Supplementierung auf den Verlauf der MS untersucht haben, negativ verlaufen. Es könnten aber auch genetische Faktoren eine Rolle spielen oder der Befall durch Parasiten. Das Nord-Süd-Gefälle der MS ist ident mit dem Nord-Süd-Gefälle der Wahrscheinlichkeit, dass parasitäre Infektionen auftreten. Es könnte sein, dass die Parasiten einen schützenden Effekt haben.

STANDARD: Wie ist das zu verstehen?

Leutmezer: Eine interessante Therapiestrategie ist es, das Immunsystem durch Parasiten toleranter zu machen. So schaffen es beispielsweise Würmer, das Immunsystem so umzudrehen, dass sie nicht angegriffen werden. Bei MS-Patienten ist es so, dass das Immunsystem gegenüber den Nervenzellen nicht tolerant ist. Durch eine Wurminfektion könnte das Immunsystem langfristig so umgemodelt werden, dass es auch gegenüber den Nervenzellen toleranter wird.

STANDARD: Gibt es ein Alter, in dem es sehr unwahrscheinlich ist, an MS zu erkranken?

Leutmezer: In der Kindheit und ab 50 ist es unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Etwa jeweils zehn Prozent der Erkrankungen beginnen in der Kindheit und Jugend und nach dem 50. Lebensjahr. Im Alter ist es deshalb auch unwahrscheinlich, weil das Immunsystem mit zunehmender Lebensspanne schwächer wird. Wenn das Immunsystem schwächer wird, ist auch die MS weniger aktiv. (Günther Brandstetter, 6.2.2018)