Vor fast einem halben Jahrhundert, am 8. März 1968, wurde eine friedliche Versammlung einiger tausend Studenten im Hof der Warschauer Universität für kulturelle Freiheit und die Rechte der Studenten von der Polizei brutal angegriffen. Es folgten dreitägige Studententumulte in allen Universitätsstädten. Das kommunistische Regime antwortete mit nach vorbereiteten Listen erfolgten Massenverhaftungen und politischen Säuberungen. Die Bevölkerung blieb damals noch gleichgültig.

Nach zwei Tagen wurden die Namen von acht jüdischen Studenten, die als "zionistische Verschwörer" bezeichnet wurden, veröffentlicht. Im parteiinternen Machtkampf spielte das als "antizionistisch" kaschierte, antisemitische Kesseltreiben eine Schlüsselrolle. Es erreichte während des Prager Frühlings und nach dem Nahostkrieg im ganzen Ostblock (mit Ausnahme Rumäniens und Ungarns) einen neuen Höhepunkt. Die meisten Juden (etwa 15.000 bis 20.000) emigrierten aus Polen.

Bei den Recherchen über Polen für mein Buch "Antisemitismus ohne Juden" (1972) habe ich herausragende katholische Staatsmänner wie Tadeusz Mazowiecki, den ersten Ministerpräsidenten nach der Wende, oder Wladyslaw Bartoszewszki (Auschwitz-Häftling und später zweimal Außenminister) sowie die exkommunistischen mutigen Reformer Bronislaw Geremek und Adam Michnik kennengelernt. Aber auch schmerzhafte Details der polnisch-jüdischen Tragödie während der Besatzung durch Hitlerdeutschland.

Polen erlitt eine beispiellose Katastrophe: Fast 20 Prozent seiner Bevölkerung kamen um. Auch für Polen gilt die Feststellung des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel: "Nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer." Fast drei Millionen Juden (zehn Prozent der Bevölkerung) fielen Hitlers Rassenwahn zum Opfer. Trotz Todesstrafe gab es in Polen mehr Judenretter, "Gerechte unter den Völkern" (Yad Vashem), nämlich 6707 Menschen, als in jedem anderen Land!

Ich habe bei Vortragsreisen seit der Wende offene Diskussionen über die dunklen Seiten der polnischen Geschichte erlebt. Angesichts des tief verwurzelten Antisemitismus der Zwischenkriegszeit gab es nicht nur heldenhaften Widerstand, sondern auch Beteiligung an den von Deutschen begangenen Verbrechen während der Besatzung. So haben polnische Bauern im Juli 1941 in der Kleinstadt Jedwabne, aufgestachelt von Nazi-Propaganda, über tausend jüdische Nachbarn ermordet.

Die "schmerzhafte, aber notwendige Wahrheit" (Adam Michnik) über Jedwabne und andere judenfeindliche Ausschreitungen haben leidenschaftliche Debatten ausgelöst. Vor dem Hintergrund, dass 1945 jeder zehnte nichtjüdische Pole tot war, wurde die absurde Bezeichnung "polnische Todeslager" während der Nazi-Herrschaft zu Recht empört zurückgewiesen. Ein jetzt von der rechtspopulistischen, nationalistischen Regierung unüberlegt durchgepeitschtes, schwammig formuliertes Gesetz, das jedem Haft androht, der über polnische Mitverantwortung an Nazi-Verbrechen spricht, eröffnet jedoch ein neues Kapitel in der traurigen Geschichte der Verlogenheit. Ein folgenschwerer Rückschlag für die Juden – und für die Polen. (Paul Lendvai, 5.2.2018)