In "Let’s go Europe", einem essayistischen Bericht über seine Erfahrungen als Flüchtlingshelfer im Herbst 2015, schildert der Schriftsteller Vladimir Vertlib eine Begegnung der besonderen Art:

"Zerreißen Sie doch Ihren Pass!"

"Vor dem Salzburger Hauptbahnhof spricht mich ein dunkelhäutiger Herr in mittleren Jahren an. An diesem Abend bin ich als freiwilliger Helfer der Caritas im Einsatz und schiebe gerade einen Einkaufswagen voller Decken, um diese an Flüchtlinge [...] zu verteilen. Der Mann macht einen sehr aufgeregten Eindruck. Warum ich denn 'diesen Leuten' helfe, fragt er mich empört."¹ Der dunkelhäutige Herr ist vor Jahren selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen. Damals habe ihm praktisch niemand geholfen. Dennoch habe er sich unter widrigsten Umständen hochgearbeitet – mittlerweile sei er österreichischer Staatsbürger.

Warum, fragt der ehemalige Flüchtling den Flüchtlingshelfer, warum bekommen die heutigen Flüchtlinge so viel, "warum werden gerade sie mit offenen Armen empfangen, so als sei Europa plötzlich zu einem Selbstbedienungsladen für Menschen aus aller Welt geworden"

Autor Vladimir Vertlib.
Foto: Heribert Corn/corn.at

Vertlib fragt, ob er, der ehemalige Flüchtling, sich gar nicht freue, dass "'heute zumindest ein paar Dinge [...] besser sind als vor zwanzig oder dreißig Jahren?' 'Nein! Nein! Es geht ums Prinzip!', sagt der Mann aufgeregt. 'Um welches Prinzip denn?', frage ich und versuche, ruhig zu bleiben. 'Diese Menschen haben alles verloren.' 'Sie bekommen alles!', schreit er. 'Dann zerreißen Sie doch Ihren österreichischen Pass und schließen sich den Flüchtlingen an, um alles zu bekommen', sage ich und beschleunige meinen Schritt.'"

Zwischenstationen

Erlebnisse dieser Art nimmt Vertlib in "Let's go Europe" zum Anlass für Reflexionen über Gesellschaftliches und Politisches – mitunter lösen sie aber auch Rückblenden in die eigene, traumatische Vergangenheit aus:

"Meine Odyssee als Migrant hat mehr als zehn Jahre gedauert. Als Kind und als Jugendlicher bin ich mit meinen Eltern in sieben Ländern gewesen – mit insgesamt siebzehn Zwischenstationen, meinen Geburtsort Leningrad (St. Petersburg) nicht mitgerechnet. Ich übernachtete in Aufnahmezentren für Flüchtlinge und Migranten, bei Verwandten und Freunden, in Hotels und Pensionen und in einer YMCA-Unterkunft, in fahrenden Zügen, in winzigen Wohnungen ohne Bad, Wasseranschluss und Toilette [...] und befand mich in Paris im Herbst 1975, als ich neun Jahre alt war, mit meinen Eltern stundenlang auf Herbergssuche, spät am Abend, müde, mit schweren Taschen, die ich tragen musste, jammernd, ohne dass dies irgendetwas zu ändern vermochte."

Vom Bericht zum Roman

Dass – und wie – sich in Vertlibs Romanen die großen Themen der Gesellschaft, der Politik und der Geschichte in Gestalt persönlicher Erfahrungen zu Wort melden, gehört zu den faszinierendsten Aspekten seines Erzählverfahrens. So betrachtet, ist der Bericht "Let's go Europe" mit Vertlibs rein literarischen Texten strukturell verwandt. Eine Verwandtschaft, die seine Entscheidung, die eigenen Erfahrungen als Flüchtlingshelfer zum Ausgangspunkt seines neuen Romans zu machen, der im Herbst 2018 erscheinen soll, beeinflusst haben mag.

Der Protagonist dieses Romans, ein im bayrischen Freilassing, an der deutsch-österreichischen Grenze, lebender Mann mit russisch-jüdischem "Migrationshintergrund", engagiert sich an eben dieser Grenze als freiwilliger Flüchtlingshelfer. Wie dem realen Flüchtlingshelfer Vertlib bringen die Erfahrungen an der Grenze auch den fiktiven Flüchtlingshelfer im Roman an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Nicht zuletzt dort, wo sie Flashbacks in die eigene, von Flucht und Migration geprägte Vergangenheit auslösen.

Dann löst sich die Romanhandlung aber von der Folie des Erfahrungsberichts. Der Protagonist hatte in seiner Jugend eine Affäre mit einer Frau, die später aus seinem Leben verschwand. Dass aus dieser Verbindung ein Kind hervorgegangen war, eine Tochter, die jetzt, mitten in der Flüchtlingskrise, auf einmal in sein Leben tritt – davon hatte er keine Ahnung …

Flüchtlinge 2015 an der deutschen Grenze in Wegscheid.
Foto: AFP/DPA/Armin Weigel

Werkstattgespräch

All das erfahre ich im Rahmen eines Werkstattgesprächs, bei dem Vertlib und ich uns über handwerkliche und theoretische Aspekte des Schreibens austauschen. Vertlibs Idee, seine Erfahrungen zum Ausgangspunkt eines literarischen Textes zu machen, fasziniert mich. Zum einen, weil mich der Umgang von Autoren, die – so wie Vertlib und ich – sowohl literarisch als auch essayistisch schreiben, mit dieser schreiberischen Doppelexistenz seit Jahren beschäftigt. Zum anderen, weil mir der Gedanke, reale Erfahrungen, in diesem Fall als Flüchtlingshelfer, unmittelbar als Folie für einen fiktiven Text zu verwenden, aber auch das literarische Schreiben über ein Thema – gänzlich fremd ist.

Es kommt zwar vor, dass Leser meinen Erzählungen oder Romanen bestimmte thematische Motive zuordnen. Etwa die Themen Identität und Identitätskonstruktionen in den Romanen "Ungläubig" und "Teheran Wunderland". Dabei handelt es sich aber stets um Überlegungen und Zuschreibungen nach Ende des Schreibprozesses respektive nach der Veröffentlichung des Textes. Vor und während der Arbeit an einem literarischen Text habe ich keine (bewussten) thematischen Anliegen.

Dass ein Bericht wie "Let's go Europe" den gedanklichen Hintergrund für einen Roman abgebe, sei auch für seine Arbeitsweise nicht typisch, meint Vertlib. Häufig bildeten Zeitungsartikel, Filme oder auch nur einzelne Phrasen den Ausgangspunkt für einen Roman. Auch seinem letzten Roman, "Lucia Binar und die russische Seele" – ein im zweiten Wiener Gemeindebezirk angesiedelter, von Michail Bulgakow inspirierter, fantastischer Roman, in dem der Teufel eine zentrale Rolle spielt – sei ein gänzlich anderer Entstehungsprozess vorausgegangen. Hier standen einzelne Beobachtungen, Erzählungen im Freundes- und Bekanntenkreis, flüchtige Impressionen, politische Ereignisse und die Beschäftigung mit russischer Literatur im Vordergrund.

Zudem sei "Let’s go Europe" weder ein reiner Bericht noch rein essayistisch verfasst – sondern an der Grenze zwischen Belletristik und Essay angesiedelt. Andererseits hätte auch sein neuer Roman streckenweise den Charakter eines Berichts.

"Das Thema findet mich"

Bevor er sich an das Schreiben eines Romans mache, habe er in der Regel eine Geschichte im Kopf – nicht ein Thema. Letzteres bilde sich erst im Laufe des Niederschreibens aus. "Das Thema", stellt Vertlib klar, "findet mich. Nicht umgekehrt". Es käme allerdings auch vor, dass ihn ein Thema, etwa der Rechtsextremismus, so sehr beschäftige, dass aus dieser Beschäftigung die Idee zu einer Geschichte entstünde.

Nachdem sich während der Arbeit an einem Roman so etwas wie ein Leitmotiv herauskristallisiert habe, könne es passieren, dass neu hinzugekommenes erzählerisches Material dieses Motiv erweitere, respektive vertiefe. Oder er streiche bestimmte bereits niedergeschriebene Teile der Handlung, um nicht "vom Thema abzuweichen".

"Gerade Sie als Jude ..."

Als Vertlib in diesem Zusammenhang seinen Roman "Am Morgen des zwölften Tages" erwähnt, muss ich schmunzeln. Schon im Vorfeld unseres Gesprächs hatte ich die Idee, einen Blogbeitrag über dieses zu schreiben – begleitet vom Gedanken: "Endlich wieder ein Beitrag ohne 'Islamophobie'." Daraus wird also nichts.

"Am Morgen des zwölften Tages" erzählt die Geschichte Astrid Heisenbergs, einer Frau in mittleren Jahren und ihres Großvaters. Beide haben – auf je eigene Art – eine besondere Beziehung zum "Orient". Astrid pflegt glücklose Liebesbeziehungen zu Männern aus dem Nahen und Mittleren Osten, ihr Großvater – auf dessen Spuren sie sich begibt – war unter den Nationalsozialisten ein berühmter Orientalist, Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums und Verfasser eines Buches über eine "faschistische Perspektive für die Welt des Islam".

Ich erinnere daran, dass ihm der Roman seinerzeit den Vorwurf der "Islamophobie" eingebracht hatte. Vertlib bestätigt diese Erinnerung. Bei einer privaten Lesung in einem gutbürgerlichen Salon in Hietzing sei ihm etwa vorgehalten worden, "gerade er als Jude" dürfe nicht so über den Islam schreiben.

Manchmal frage er sich, welche Positionen das Publikum jener Lesung im Jahre 2009 heute in Sachen Migration, Integration oder Muslime einnehmen würde. Er hätte jedenfalls die irritierende Erfahrung gemacht, dass viele Zeitgenossen, die noch vor der sogenannten Flüchtlingskrise in gesellschaftlichen Fragen liberale Positionen vertreten hatten, mittlerweile "nach rechts gekippt" sind – und bei den letzten Nationalratswahlen Kurz oder Strache gewählt haben. (Sama Maani, 7.2.2018)

¹ In: Uwe Beyer (Hrsg.): Europa im Wort. Eine literarische Seismographie in sechzehn Aufzeichnungen, Heidelberg 2016

Literaturhinweise

  • Sama Maani, Ungläubig, Klagenfurt 2014
  • Sama Maani, Teheran Wunderland, Klagenfurt 2018
  • Vladimir Vertlib, Lucia Binar und die russische Seele, München 2015
  • Vladimir Vertlib, Am Morgen des zwölften Tages, Wien 2009

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