Das "Elysium" bei Regisseur Calixto Bieito, es ist an der Komischen Oper Berlin voll der seltsamen Kuscheltiere. Mit Videos erinnert man aber auch an das Wien der Entstehungszeit der Oper.

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Wien – So ist das an der Komischen Oper Berlin: Wenn Chef Barrie Kosky nicht Regie führt, vielmehr in London Carmen vorbereitet, um danach seiner Heimat Australien Die Nase (Schostakowitschs Oper) zu richten, überlässt er das Haus einem Schwergewicht wie Calixto Bieito. Und der bringt ein Blockbusterschmankerl wie Franz Schrekers Die Gezeichneten auf die Bühne. Den Skandalbonus, den Bieito hatte, als er die Überbleibsel des realistischen Musiktheaters dem Bilderschock aussetzte, hat er auch nicht mehr nötig. Man sieht: Es geht auch ohne Blut und diverse Körperflüssigkeiten, wenn man Personenregie beherrscht wie der Katalane.

Komische Oper Berlin

Und doch ist man diesmal etwas überrascht – die erste Hälfte des Abends geht eher als "dreiviertelszenisch" durch. Die Sänger an der Rampe in dem schmalen, abstrakten Raum (Rebecca Ringst) wissen natürlich, was sie singen; und die Videos machen es klar. Mit dem Riesenrad kriegt man den Prater und die Assoziation eines fernen Wien spielend auf die Bühne. Und dies sind Erinnerungen an den historischen Nährboden, aus dem das (Ende des Ersten Weltkrieges uraufgeführte) Werk stammt: Mit den Gezeichneten wurde Schreker, der Konkurrent von Richard Strauss, ja höchst populär. Bis zu seiner Verbannung aus dem deutschen Musikleben durch die Nazis.

Bieitos Ästhetik bleibt jedenfalls bis zur Pause im Griff dieser Tendenz. Das Ganze wird so mehr zur Diagnose Einzelner, als zu der einer dekadenten Gesellschaft. Es gibt Videoprojektionen der Gesichter von missbrauchten Kindern und vergewaltigender Männer in Großaufnahme; man sieht niedliche Mädchen und kurzbehoste leibhaftige Knaben.

Der reiche Schöpfer jenes geheimnisumwobenen Elysiums vor den Toren Genuas, in dem die Töchter der Stadt spurlos verschwinden, ist hier nicht körperlich, sondern durch seine pädophile Neigung gezeichnet. Beim Objekt seiner Begierde beschränkt sich dieser Alviano Salvago aber auf eine Puppe, die dem Jungen ähnelt.

Die Neoninsel

Das fokussiert die Geschichte zwar auf einen Kern. Es nimmt ihr aber auch einiges vom Reiz des Schwebend-Irritierenden. Immerhin bleibt Bieito in seiner szenischen Reduktion konsequent bis zur optischen Überdeutlichkeit: "Elysium" ist ein Neonschriftzug über der geöffneten Insel der Ausschweifung. Sie birgt hier unzählige herabhängende Kuscheltiere und eine Spielzeugeisenbahn, in der auch Erwachsene mitfahren können und Kinder dann irgendwann die toten Fahrgäste sind. Michael Jacksons Neverland lässt grüßen.

Was die so auf sich selbst zurückgeworfenen Protagonisten allerdings an emotional aufgeladener Intensität bieten, ist atemberaubend – wie die Klangopulenz: Dirigent Stefan Soltesz animiert mit all seiner Strauss- und auch Schreker-Kompetenz das Orchester zu einem Rauschzustand, wie man ihn in diesem Haus noch nicht erlebt hat. Also: Wie diese Musik in ihrer Melange aus Fin de Siècle und Moderne klingt, irritiert, aufblüht, anspielt und wie sie sich mit den wunderbaren Stimmen mischt, es ist das eigentliche Ereignis!

Exzellent auch die Protagonisten: Kraftvoll wirkt Michael Nagy als rabiater Tamare. Dem Motto folgend "Schönheit sei die Beute des Starken" lässt sich die vokal fulminant lodernde Ausrine Stundyte als Carlotta von ihm verführen, um ihn dann aber auch zu erwürgen.

Die Wiederentdeckung

Peter Hoare ist der mit seiner Veranlagung ringende, eindrucksvolle Alviano. Wobei: Auch alle übrigen Partien sind überzeugend besetzt. Und der Chor der Komischen Oper lässt sein Gestaltungspotenzial in den verbliebenen Zweidreiviertelstunden Bruttospielzeit zumindest ahnen.

Seit ihrer Wiederentdeckung durch Hans Neuenfels und Michael Gielen 1979 in Frankfurt sind Schrekers Gezeichneten wieder in Reichweite der Opernhäuser. Kusej in Stuttgart, Lehnhoff in Salzburg und zuletzt Warlikowski in München haben danach gegriffen. Vor allem Soltesz hat jetzt erneut bewiesen, warum sich das lohnt! (Joachim Lange aus Berlin, 8.2.2018)