Wien – Eine der schönsten, stillsten und vielleicht auch poetischsten Fotografien von Man Ray (1890–1976) ist dem absoluten Stillstand geschuldet – einer Zeitspanne, die eine gehörige Schicht Staub zum Fallen benötigt. "Dust Breeding" ("Staubzucht") von 1920 zeigt etwas völlig Profanes, den Lurch, der sich auf einer Platte gesammelt hat. Die Wirkung ist allerdings jene einer Luftaufnahme – von einer Landschaft mit Straßen und Bäumen. So erklärt sich auch der Witz der Zeitschrift "Literature": Als die Langzeitbelichtung 1922 publiziert wurde, gab man ihr den Titel "Aussicht von einem Flugzeug".

"Elevage de poussière/Dust Breed" von 1920 entstand im Atelier von Marcel Duchamp.

Das Bild, das nun auch in der Man-Ray-Retrospektive im Wiener Kunstforum zu sehen ist, offenbart jedoch nicht nur den Humor des dem Dadaismus und Surrealismus zugerechneten Künstlers, sondern etwas, was man vielleicht sogar die Essenz seines Schaffens nennen könnte: das Erkennen des Besonderen im Alltäglichen, der skulpturalen Qualitäten von Lampenschirmen, Kleiderbügeln, von sich auf einer Leine blähender Wäsche ("Moving Sculpture", 1920) oder von später zu Assemblagen zusammengefügten Fundstücken. "Die Natur schafft keine Kunstwerke. Wir und die einzigartige Fähigkeit des menschlichen Geistes zu deuten sind es, die Kunst sehen", so der als Emmanuel Radnitzky Geborene selbst.

Man Rays Staublandschaft erzählt auch von der lebenslangen Freundschaft mit Marcel Duchamp. 1915, zwei Jahre nachdem dessen "Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2" bei der Armory Show in New York für Aufsehen gesorgt hatte, besuchte ihn dieser in seinem Studio. Legendär ihr Tennisspiel vor dem Haus, denn die Kommunikation war aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse schwierig; später bevorzugten die beiden allerdings eine gepflegte Partie Schach. Und 1920 dann, ein Jahr bevor beide nach Paris gingen, wollte Man Ray "Das große Glas" seines Kollegen fotografieren: Beim Hochheben kam die "Staubzucht" zum Vorschein.

Man Rays "Tränen" (1933) ist eines der ikonenhaften, weithin bekannten Fotografien Man Rays.
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18

So anekdotenreich das Sujet, so klein ist der tatsächliche Vintage-Print; vergegenwärtigt man sich die großformatigen Abzüge vieler Gegenwartsfotografen, ist es eine regelrecht unscheinbare Aufnahme. Man darf sich in Zusammenhang mit Man Ray nicht jene Fotomappe vorstellen, die einmalig für die Photokina 1960 groß aufgeblasen wurde – darunter die Lippen von Kiki de Montparnasse, dem It-Girl des Paris der 1920er-Jahre, die Fotos von Tränen, Augen, Händen, Kieselsteinen oder Seerosen.

Zitate der Popkultur

Kuratorin Lisa Ortner-Kreil geht es ganz generell um mehr als den genialen Fotografen, der etwa in Wien 1997 im Kunsthaus vorgestellt wurde, nämlich um den ganzen Man Ray. Die große Retrospektive – erstaunlicherweise die erste im deutschen Sprachraum – zeigt auch den Maler, den Bildhauer, den Filmemacher und sein Fortleben in Mode und Popkultur. Zu sehen ist etwa Anton Corbijns Man Ray zitierendes Video "Barrel of a Gun" (1997) für Depeche Mode.

Gabrielle (Coco) Chanel porträtierte Man Ray 1935/36. Im Laufe seines Lebens sollte er viele Persönlichkeiten porträtieren: Immer wieder den Freund Marcel Duchamp, aber auch die Künstler Pablo Picasso, Jean Cocteau, Salvador Dalí, Georges Braque, Arnold Schönberg, Virginia Woolfe, Salvador Dalí, Ava Gardner oder Catherine Deneuve.
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18

Zur Fotografie, dem Medium, das ihm schon früh mit Porträtaufträgen und Modeaufnahmen seinen Lebensunterhalt sicherte und in dem er die herausragendsten Werke erzielte, hatte er sogar zeitlebens ein zwiespältiges Verhältnis. Denn seine erste Liebe galt der Malerei. Nur in einem Jahrzehnt, den 1920er-Jahren, war Man Ray total happy mit der Fotografie. Es waren die Jahre seines ersten Paris-Aufenthaltes, als er, der grundsätzlich mit enormem Selbstbewusstsein ausgestattet war, einsehen musste, dass er gegen Pablo Picasso und Salvador Dalí keine Chance hatte. Und tatsächlich sind aus dieser Zeit auch keine Gemälde von ihm erhalten.

Aus einem gescheiterten Experiment entstanden: das großformatige Gemälde "The Rope Dancer Accompanies Herself with Her Shadows" (1916).
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18

Angesichts von 700 Malereien, die Man Ray hinterlassen hat, ist man froh, hier nur eine kleine Auswahl präsentiert zu bekommen. "Ich male das, was ich nicht fotografieren kann, was aus der Fantasie kommt, aus Träumen." Bedauerlicherweise war Man Ray alles andere als innovativ, seine Bilder wirken wie schlechte Kopien surrealistischer Bilder, etwa jener von Giorgio de Chirico. Eine der wenigen Ausnahmen ist etwa "The Rope Dancer Accompanies Herself with Her Shadows" (1916). Zu verdanken ist die Arbeit einem gescheiterten Experiment mit Buntpapieren, aus denen er Bewegungsstudien einer Seiltänzerin aussschnitt. Dann aber fiel sein Blick auf die abstrakten Muster der Buntpapierreste ...

Eine Episode über die Man Ray auch in seiner 1963 erschienenen Autobiografie "Self Portrait" schreibt. Wunderbar, dass Auszüge daraus im kompakten Katalog (240 Seiten, Kehrer Verlag 2018) – anstelle einer Chronologie – zitiert werden.

Freude am Experiment, etwa am Spiel mit transparenten Materialien: Man Rays "The Veil" (1930).
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18

Was sich im prägnanten Überblick der Ausstellung sehr gut vermittelt, ist Man Rays unbändige Neugier, sein Fasziniertsein vom Gestalten mit Licht und Schatten, von der Semitransparenz von Materialien – etwa Textilem oder Glas, die er in seinen Fotogrammen, den Rayographien, direkt aufs Papier legte oder die er vor die Fotolinse spannte.

Und freilich offenbart sich auch der Erotomane Man Ray. In der Zeichnung "Fétiche" (1940) stellte Man Ray Frauen überhaupt nur als Vagina auf Beinen dar. Objektifizierte Frauenkörper? Ja. Abhängen? Sicher nicht. (Anne Katrin Feßler, 14.2.2018)

Wer kennt es nicht? Man Rays Foto "Violon d'Ingres" (1924/1990).
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18
Man Ray: "Noire et Blanche" (1926/1970).
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18
Die junge, selbstbewusste Lee Miller (Foto von 1929) stellte sich eines Tages in Man Rays Atelier als "seine Assistentin" vor: Die Solarisationen ist eine Erfindung von beiden. Es wird angenommen, dass Miller Man Ray verließ, weil er diese allein für sich reklamierte.
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18
Serigrafie Man Rays aus dem Album "Revolving Doors" (1926).
Foto: Man Ray Trust/Bildrecht, Wien 2017/18