Am Tiananmen-Platz in Peking protestierte Li Minqi 1989 für Demokratie und einen freien Markt. Als Wirtschaftsstudent in Peking war er von der freien Marktwirtschaft überzeugt. Nach zweijähriger Haft änderte er seine Meinung: Heute ist der Wirtschaftsprofessor hartgesottener Sozialist. Im Gespräch am Wiener Institut für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit (VIDC) spricht er über die Gefahren, die von einer wirtschaftlichen Überlastung in China ausgehen.

STANDARD: China ist ein kommunistisches Land, hat sich aber dem freien Markt geöffnet. Wie geht sich das aus?

Li Minqi: Diesen Widerspruch kann man recht leicht auflösen. China hatte ein sozialistisches Politsystem. Doch schon seit den 1980ern hat es sich dem Kapitalismus zugewandt. Dabei wurde auch die politische Struktur umgeformt. Sie nennen es immer noch Kommunistische Partei, aber ihre Ziele haben nichts mehr mit Kommunismus zu tun. Höflich nennen sie es "Einkommenswachstum", aber in Realität fördern sie die kapitalistische Akkumulation.

STANDARD: Vor Tiananmen haben Sie doch auch die freie Marktwirtschaft propagiert?

Li: Ich war zwei Jahre im Gefängnis, weil ich 1989 am Tiananmen-Platz demonstriert habe. Damals habe ich an die freie Marktwirtschaft geglaubt, weil meine chinesischen Professoren den Kapitalismus gelehrt haben. Mir wurde beigebracht, dass Privatisierung gut ist, dass man die faulen, ineffizienten Arbeiter loswerden muss (lacht). Doch die 1989er-Bewegung wurde von Intellektuellen und Studenten angetrieben und hat nicht die Interessen der Arbeiter vertreten. Wenn man eine demokratische Bewegung will, muss man von der Masse gestützt werden. Also wurde ich Sozialist.

STANDARD: Aber die Öffnung des Marktes hat auch viele Menschen aus der Armut geholt.

Li: Die chinesische Wirtschaft ist enorm gewachsen, das stimmt. Das System ist aber nicht nachhaltig, weil das Wachstum auf der Ausbeutung von Millionen von Arbeitern basiert. Jetzt wollen die Arbeiter diese Ausbeutung nicht mehr dulden, wollen nicht mehr 60 Stunden pro Woche arbeiten. Und sogar die, die die Universität abgeschlossen haben, können sich keine Wohnung in Peking und keine Ausbildung für ihre Kinder leisten. Dazu kommen die Umweltprobleme. Wenn man sich all diese Konflikte anschaut, dann ist klar, dass es schwierig sein wird, die neuen Bedürfnisse zu stillen und trotzdem das Wachstum aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Glauben Sie, dass das System in China also zusammenbrechen wird?

Li: Schon in Südkorea, Polen oder Brasilien konnte man in den 1980ern beobachten: Wenn der soziale Wandel einen bestimmten Grad erreichte, wenn also die landwirtschaftliche Bevölkerung weniger als 30 Prozent der Arbeitskraft ausmachte, wenn die Urbanisierung eine bestimmte Schwelle überschritt, dann sind diese Länder in eine Krise geschlittert. China hat nun diesen Boden betreten. Es wird interessant sein, zu beobachten, ob China dieses Muster wiederholt.

STANDARD: Wie werden sich Chinas Probleme auf die globale Wirtschaft auswirken?

Li: Was auch immer in China passiert, hat globale Auswirkungen. Während Investitionen aus China in Übersee gemessen am Bruttoinlandsprodukt gering sind, machen chinesische Exporte etwa zehn Prozent der globalen Exporte aus. Die chinesische Fertigung ist wichtig für den westlichen Markt, China importiert viel Rohmaterial. Wenn etwas Dramatisches in China passiert, könnte das eine Umwälzung auf der ganzen Welt auslösen.

STANDARD: Apropos Fertigung: Wie beurteilen Sie Chinas Engagements in Afrika?

Li: Was China in Afrika macht, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Die chinesischen Kapitalisten profitieren von der Ausbeutung der afrikanischen Arbeiter und Ressourcen. So gesehen ist das nicht anders als das, was Europäer, Amerikaner oder Japaner in Afrika tun. Chinas Engagement ist also nicht besser oder schlechter als das von anderen transnationalen Unternehmen.

STANDARD: Ist es in dieser Logik dann nicht egal, wer global die größte Wirtschaftsmacht ist? Die Macht der USA schrumpft ja.

Li: Die USA können keine Lösungen mehr für diverse Widersprüche zwischen Umwelt, Wirtschaft und Politik bereitstellen. Aber China kann das auch nicht. China kann das sogar noch schlechter, weil es kein so starkes Militär hat. Und was die Umwelt betrifft, so ist China der größte Treibhausgasverursacher. Die USA sind der zweitgrößte – also weder China noch die USA machen viel Gutes ...

STANDARD: Es ist also eine Wahl zwischen dem geringeren Übel?

Li: Irgendwie schon. Die Priorität muss sein, die menschliche Zivilisation zu erhalten. Es müssen Kompromisse gefunden werden, um auf die berechtigten Forderungen von zwei Drittel der Bevölkerung, in Afrika, in Lateinamerika und in Südasien, einzugehen. Wenn ich mich entscheiden muss, ob das gelingen kann oder nicht, wähle ich die optimistische Option. (17.2.2018)