Wien – Die Wiener Linien stellen sich einem dunklen Kapitel ihrer Geschichte: Das Unternehmen arbeitete seine eigene Geschichte während der NS-Zeit auf. Wie die meisten österreichischen Unternehmen beschäftigten auch die damaligen "Wiener Stadtwerke – Verkehrsbetriebe" Zwangsarbeiter während der NS-Diktatur.

Die Wiener Linien öffneten ihre Archive aus eigenem Antrieb. Man wolle das Ausmaß und die Intensität dieser Gewissenlosigkeit abschätzen können, schreibt der heutige Geschäftsführer der Wiener Linien, Günter Steinbauer, im Vorwort des Buches. Man habe die Verantwortung dafür, dass die Erinnerung an diese Schandtaten aufrecht bleibe.

Unter dem Titel "Menschenmaterial: Unbefriedigend" legt der Autor und ehemalige Wiener-Linien-Mitarbeiter Walter Farthofer eine Chronik der Geschehnisse zwischen Juli 1941 und April 1945 vor. Der Titel des Buches ist ein Zitat des damaligen Direktors der Wiener Verkehrsbetriebe, Karl Schöber, der sich in einem Brief über die mangelnde Qualität der Arbeiter beschwerte.

Straßenbahngarnitur "Type M" im Ursprungszustand innen, aufgenommen noch vor den Kriegsjahren, 1930.
Foto: Wiener Linien

Am Mittwoch wurde das Buch im Wiener Verkehrsmuseum Remise unter der Anwesenheit des Autors, der für die Wiener Linien zuständigen Stadträtin Ulli Sima (SPÖ) sowie des Historikers Bertrand Perz und des Vorsitzenden des Zukunftsfonds der Republik Österreich, Kurt Scholz, präsentiert.

Farthofer, der über fünfzig Jahre für die Wiener Linien arbeitete, stützte sich bei seiner Forschung auf 1.351 Arbeitsakten, die die Zwangsarbeit bei den Wiener Verkehrsbetrieben (heute Wiener Linien) bezeugen. Laut den Aufzeichnungen waren 1.037 der Zwangsarbeiter Männer und 314 Frauen. Der jüngste unter ihnen war zum Zeitpunkt seiner Aufnahme 13 Jahre alt.

Aus 14 verschiedenen Nationen wurden die Menschen nach Wien geholt, um im Unternehmen zu schuften. Den größten Anteil – ein Drittel – der Zwangsarbeiter bei den damaligen Wiener Verkehrsbetrieben machten Holländer aus, von denen wiederum die Hälfte Frauen waren. Die zweitgrößte Gruppe waren Polen mit zwanzig Prozent.

An dritter Stelle kamen Griechen, danach Russen, Belgier und Ukrainer. Eingesetzt wurden die Arbeiter im Gleisbau, im Werkstättendienst und vereinzelt auch als Schaffner. Insgesamt 570.678 Arbeitstage wurden für die Verkehrsbetriebe unter Zwang geleistet.

Winter 1942 auf der Linie 167 in Rothneusiedl (heute im Wiener Stadtteil Favoriten).
Foto: Wiener Linien

Hierarchisierung unter den Zwangsarbeitern

Zu Zwangsarbeit kam es im NS-Regime schon früh. "Nach 1938 wurden Juden, Sinti und Roma schnell zwangsverpflichtet", sagte Bertrand Perz, Historiker und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte, im Rahmen der Präsentation des Buches.

1940 gab es eine Debatte im NS-Staat, wie man die fehlenden Wehrdienstler ersetzen könnte. Die Frauenerwerbsquote befand sich entgegen der NS-Ideologie auf dem damaligen Höchststand. "Das Regime hatte Angst, dass bei noch höherer Belastung die Stimmung in der Bevölkerung kippt", sagte Perz. Um dem Risiko zu entgehen, hat das Regime Zwangsarbeiter geholt.

Nach derzeitigem Forschungsstand wurden 13 Millionen Menschen unter dem NS-Regime zur Arbeit gezwungen. Für die deutsche Wirtschaft waren diese Arbeiter von entscheidender Bedeutung. "Das ist der größte Zwangsarbeitseinsatz von Menschen in der Geschichte", sagte Historiker Perz.

Doch Zwangsarbeiter war nicht gleich Zwangsarbeiter: Osteuropäer befanden sich auch bei den Wiener Verkehrsbetrieben am unteren Ende der von den Nazis vorgenommenen Hierarchisierung.

Die Linie 46 im Zentralfriedhofverkehr zwischen erstem und zweitem Tor während des Zweiten Weltkriegs. Im Hintergrund sind weitere Züge mit K-Triebwagen.
Foto: Wiener Linien

Primitive Schlafstätten

Untergebracht waren die Arbeiter in primitiven Behausungen, zum größten Teil in Lagern. Für viele wurden Baracken gebaut. In einer Unterkunft im vierten Wiener Gemeindebezirk stand den Arbeitern nicht mehr zur Verfügung als ein Strohsack, ein Polster und zwei Decken. Es gab keinen Spind, die Habseligkeiten wurden unter dem Bett verstaut, oft gab es keine Heizung.

Einige Arbeiter, vor allem Holländer, wurden in umfunktionierten Schulen untergebracht. Die betreffenden Schulen standen leer, da die Schüler in vor Luftangriffen sichere Gebiete evakuiert wurden. Meist gab es keine Waschgelegenheiten, sondern lediglich Ausgussmuscheln. Für ihre Unterkünfte haben die Arbeiter finanziell aufkommen müssen.

Manchmal regte sich auch Widerstand: Mit der Methode der "Arbeitsbummelei" wurde "passive Resistenz" geleistet, berichtet Farthofer. Ein Grieche wurde beispielsweise wegen Sabotage zu drei Jahren Haft verurteilt.

Der Autor des Buches "Menschenmaterial: Unbefriedigend" Walter Farthofer.
Foto: Christian Fürthner

"Eine Wiedergutmachung gibt es nicht", sagte der bei der Buchpräsentation ebenfalls anwesende Vorsitzende des aus dem Versöhnungsfonds hervorgegangenen Zukunftsfonds der Republik, Kurt Scholz. Es gebe lediglich so etwas wie Gestenzahlungen, das vergangene Leben aber könne man nicht restituieren.

Desiderate in der Forschung gebe es, was das "große Bild" betreffe, nicht mehr so viele, meinte Perz. Einzelne Regionen und Bereiche müssen noch stärker erforscht werden, "auch wegen der Vermittlungsarbeit". Es gehe darum zu zeigen, dass die Gräuel "nichts Exotisches waren, sondern überall". (Vanessa Gaigg, 16.2.2018)