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Hermann Broch und Elias Canetti gelten als Österreichs wichtige Beiträger zur Massentheorie.

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Ambivalenz ist noch das höchste der Gefühle, mit denen Österreichs Meisterdenker der sozialen Erscheinungsform der Masse vor rund 70 Jahren begegneten. An der anonymen Masse störte Hermann Broch (1886-1951), den Erneuerer des deutschsprachigen Romans, zum Beispiel die Entwertung des gesprochenen Wortes. Eine eigentümliche "Verachtung des Wortes, ja beinahe ein Ekel vor dem Wort" habe sich der ganzen Menschheit bemächtigt, so Broch 1934.

Der Autor, eigentlich ein Wiener Textilfabrikant, der die eigene, durchaus gefährdete Existenzweise Schritt für Schritt in die eines Sozialforschers und Epochendenkers umbaute, steht zu diesem Zeitpunkt unter dem Eindruck der Massenbewegungen in der Ersten Republik. Gilt der Masse das Wort nicht viel, so ist sie deshalb nicht mit Stummheit geschlagen. Im Gegenteil, die ganze Welt sei voller Stimmen, "wirr wie das Gewirr in einem schlechtfunktionierenden Lautsprecher, einander überschreiend" (Broch).

Aus diesem "Tohuwabohu von Sprache, von Meinungen" glaubt der Autor der "Schlafwandler"-Trilogie, Urheber einer äußerst anspruchsvollen Theorie des Werteverfalls, Anfang der 1930er-Jahre den "fürchterlichen Lärm der Stummheit" herauszuhören, "der den Mord begleitet".

Das Bellen der zeitgenössischen Rhetorik ist an die Masse gewandt. Durch den Appell der Führerfiguren werden Kräfte entfesselt, denen kein Sittengesetz, keine reflexive Sinnesart Einhalt gebietet. Die Wirkung solcher Beeinflussungen aber ist auf lange Sicht tödlich: für Andersdenkende; für Sündenböcke, Außenseiter, Klassenfeinde und Minderheiten aller Art.

Menschen bilden die anonymisierten Bestandteile der Masse. Das Aufgehen in der Masse entlässt das Individuum aus seiner moralischen Verantwortlichkeit. Solche Zusammenschlüsse finden oftmals spontan statt und weisen unterschiedliche Erhitzungsgrade auf.

Von Führern geleitet

Menschen werden zusammengeknetet und wie in einem alchemistischen Prozess immer untrennbarer miteinander verschmolzen. Die verzückte, zu Taumel und Begeisterung hingerissene Masse verfällt, von "Führern" angeleitet, in einen Wahn. Die Besorgnis über die letztlich unkontrollierbare Art der Massensuggestion wird Broch, den Philosophen unter den heimischen Dichtern, bis zu seinem Tod im US- Exil nicht mehr verlassen.

Hermann Broch äußerte seine ersten Bedenken anno 1934, in seinem Essay "Geist und Zeitgeist". Seine Reflexionen über die Verachtung des Wortes verraten nicht nur die Lehrmeisterschaft von Karl Kraus. Broch nimmt den faschistischen Jargon, die politisch wirksamste Sprache dieser Zeit, in den Blick. Die Zusammenrottungen von Menschen bilden in diesem Augenblick bereits die Signatur des Zeitalters. Die Aufmärsche der politischen Parteien markieren die Verlagerung des Aktionsfeldes. Die Anleitung zum konzertierten Handeln geht vielleicht noch, wie in den alten Tagen der Kabinettspolitik, von Ministerbüros und Präsidialkanzleien aus. Als Brennpunkte müssen von nun an jedoch Straßen, Plätze und Fußballstadien herhalten.

Zerborstene Monarchie

Elias Canetti (1905-1994), Brochs jüngerer Kollege, wird einen wichtigen Anstoß zu seinen Überlegungen zu "Masse und Macht" durch das frenetische Geschrei der Rapid-Fans auf der Hütteldorfer Pfarrwiese in Wien-Penzing erhalten. Der Diskurs über die Masse entsteht nicht in der Ersten Republik. Schriften wie Le Bons "Psychologie der Massen" lagen auf Deutsch bereits seit 1912 vor. Doch Canetti wird von den Erfahrungen in der Alpenrepublik, die viele als Restposten der zerborstenen Donaumonarchie gar nicht haben wollten, mitgeprägt.

Vordem war das Auftreten von Massen mit Hoffnungen verknüpft und von fortschrittlichen Kräften stürmisch begrüßt worden. Ideen würden erst dann zur materiellen Gewalt, dekretierte Karl Marx, wenn sie die Massen ergreifen. Man heißt die Masse als Träger demokratischen Bewusstseins und als Werkzeughebel, der die Menschheit in eine goldene Zukunft katapultiert, ausdrücklich willkommen. Das Klima kippt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Durch ihn wird der Zusammenhang von kollektiver Anonymität und unvorstellbarer Gewalt für alle schlagartig evident. Der moderne Krieg verwirklicht den Albtraum der Massenvernichtung.

Das "Staats-Vakuum"

Der Erste Weltkrieg zerstörte die Ordnung der herrschenden Klassen grundlegend. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie schien auch das österreichische Ruhigstellungsmerkmal verlorengegangen. Broch hat die wichtigsten Merkmale dieses Epochenbruchs in seiner posthum veröffentlichten Schrift "Hofmannsthal und seine Zeit" famos dargelegt. Das eigentliche Samenkorn zum Verständnis heimischer Massentheorien liegt im Habsburgerreich begraben. Denn in der Spätblüte des österreichischen Fin de Siècle entstand die Idee, man müsse das Aufkommen der Masse unter allen Umständen abwehren.

Nach den Wirren der 1848er-Revolution war die österreichische Monarchie ohne rechte Begeisterung konstitutionell geworden. Der Reichsrat flankierte die sklerotische Figur von Kaiser Franz Joseph I. "Im Staats-Vakuum", schreibt Broch, "herrschte Un-Demokratie, und was sie mit echter noch gemein hatte, das war lediglich die Überwindung des absolutistischen Regimes." Die Substanz eines auf der Lüge des Zusammenhalts aufgebauten Staates bildete allein die Krone.

Mit zunehmendem Alter wurde Franz Joseph immer starrer, unzugänglicher. Der Verweser des Reichs selbst schien unsterblich, aber um den Preis, dass er alle Reformer für mögliche Reichsverderber ansah. Also lehnte er sie schon allein um ihrer natürlichen Veränderungslust willen kategorisch ab.

Für ihn, den Monarchen und Reichshüter, bildeten alle, ob Volk, ob Adel, ob Prinzen des Erzhauses, eine "unterschiedslose Masse". Sie alle verfielen dem Verdikt von Franz Josephs Ablehnung: allein deshalb, weil sie lebensvoll und daher potenziell veränderungswillig erschienen und deshalb alles das, was er in greiser Gestalt verkörperte, mutwillig aufs Spiel setzten. Ein Gespenst genießt gegenüber jedem menschlichen Wesen den Vorzug der Langlebigkeit.

Aus diesem Gedankenspiel Hermann Brochs weht die Eiseskälte eines überlegenen Verstandes herüber. Natürlich mokiert Broch sich über die Enge und Eingezogenheit von Habsburgs vorletztem Kaiser. Aber von nun an ist der Leumund der Masse nicht nur in den Augen eingefleischter Ordnungsliebhaber gründlich verdorben. Von jetzt an ist es gerade die Unberechenbarkeit, derentwegen man den Zusammenschluss von Menschen zu großen sozialen Entitäten kritisch hinterfragt.

Kein gutes Haar

Österreichs wichtige Beiträger zur Massentheorie – Sigmund Freud sei an dieser Stelle außen vor gelassen – werden am Aufkommen der Masse(n) ihren ganzen Scharfsinn entzünden. Broch und kurz nach ihm auch Elias Canetti werden das Phänomen der Masse sozialpsychologisch und anthropologisch ins Visier nehmen. Sie werden an ihrer eigentümlichen Gewaltsamkeit, an ihren Entladungen, ihren zahllosen Verwandlungen kein gutes Haar lassen. Und doch bleibt auffällig, wie sehr Broch und Canetti jede rein politische Kontextualisierung vermeiden.

Das A und das O der österreichischen Massentheorie bildet, mitten im Leben, die grämlichste Todesangst. Die Menschen dispensieren ihr Ich, nur um die Angst vor dem Wahnsinn, vor dem "Anderen der Vernunft" (Broch) zu überwinden. Für Canetti ist die Masse jenes Angebot an das Individuum, seine ihm angeborene Berührungsfurcht vor Anderen, Fremden zu überwinden ("Masse und Macht", 1960). Während die großen Wertsysteme zertrümmert liegen, erhalten die Massen regen Zulauf, damit der Einzelne im betäubenden Bad in der Menge die eigene, unentrinnbare Todesangst ein Stück weit überwindet.

Zweierlei Exil

"Masse und Macht" und "Massenwahntheorie" wurden von Canetti und Broch Jahre nach Ende der Ersten Republik jeweils im Exil zu Papier gebracht. Es scheint, als ob die funktionalen Störungen Österreichs in den Jahren von 1918 bis 1938 die Ideen vom Glanz und Elend der Massen überhaupt erst beflügelt hätten. Wien, die "Versuchsstation des Weltuntergangs" (Kraus), blieb das Exerzierfeld kommender Bedrohungen. (Ronald Pohl, 17.2.2018)