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Erwartungsvoll blickt der Bub in die Regale. Die ganzen bunten Verpackungen interessieren ihn, keine Frage. Wenn ihn seine Mutter im Einkaufswagen durch die mit schwachem Neonlicht durchfluteten Gänge schiebt, ist das jedes Mal eine neue Entdeckungsreise für die großen Augen des vielleicht Vier- oder Fünfjährigen. Gemüse hier, Süßigkeiten dort, Tiefkühlspeisen und Gewürze dazu. Es könnte ein ganz normaler Supermarkt sein, wie man ihn in Europa an fast jeder Ecke findet. Tritt man aber hinaus ins Tageslicht, merkt man rasch, rund um das Tazweed Center ist etwas anders. Die vielen Zäune, die großzügig mit Stacheldraht bestückt sind, das Meer aus Satellitenschüsseln, das aus einem noch größeren Meer aus Containern in die Luft ragt, die ganze Tristesse, die die Szenerie prägt: Das ist Zaatari, eines der größten Flüchtlingslager der Welt.

Die Mutter des Buben, die ihren Namen nicht in den Medien stehen haben will, lächelt verlegen. Eigentlich könnte sie sich die Fahrt durch die Supermarktgänge sparen. Auf dem Speiseplan stehen ausnahmslos Reis und Kartoffeln: "Nicht einmal Gemüse geht sich aus." Sie und ihre Schwester, geschätzte Mitvierziger, gehören zu den etwa 80.000 Syrern, die Zuflucht in Zaatari gefunden haben, dem Camp im Norden Jordaniens, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. 2012 infolge des syrischen Bürgerkriegs durch das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) errichtet, ist es mittlerweile mehr eine feste Siedlung denn ein Lager, so gesehen die viertgrößte Stadt im haschemitischen Königreich.

Die beiden Schwestern im Tazweed Center in Zaatari. Ihre Gesichter wollen sie nicht in den Medien sehen.
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2014 sind sie geflohen, erzählen die Schwestern, während immer mehr Kinder von allen Seiten des Supermarkts zu ihnen zurückwieseln. Ihre Familien, elf Köpfe insgesamt, leben in einem der Container, zwei Räume mit insgesamt – optimistisch – geschätzten 30 Quadratmetern. Pro Person gibt es monatlich 20 jordanische Dinar, umgerechnet knapp 23 Euro. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat in Zaatari mittlerweile den Iris-Scan eingeführt, man bezahlt also bargeldfrei allein mit den Augen. Das ändert aber nichts daran, dass das Gemüse für die beiden Schwestern einfach zu teuer ist.

Keine zweite Flucht möglich

Deraa, eine Stadt nahe der jordanischen Grenze, ist ihre Heimat. Zuletzt gab es immer wieder Berichte über Syrer, die in die Heimat zurückkehren. Doch die Zahlen halten sich in Grenzen. Einer davon ist der 21-jährige Sohn einer der Schwestern. Über Whatsapp gibt es Kontakt. "Wie es dort mit dem Krieg ist, will er aber am Telefon nicht sagen: zu unsicher." Man kann sich den Rest aber denken, wenn er am liebsten zurück nach Jordanien will, ins triste Zaatari, aber nicht kann, weil Jordanien Anfang 2015 die Grenze geschlossen hat. Es waren einfach zu viele Schutzsuchende, momentan befinden sich etwas mehr als 650.000 syrische Flüchtlinge im Land mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern.

Grafik: DER STANDARD

Sieben Jahre nach Beginn des Syrien-Konflikts ist das Nachbarland Jordanien mehr denn je an seine Grenzen gestoßen, während weiter nördlich der Krieg unbeirrt weitertobt. Die Regierung definiert jährlich die Kosten für die Flüchtlinge, doch gedeckt sind sie immer weniger. Die internationale Unterstützung geht drastisch zurück, sagt Mohammed Al-Taher, der für UNHCR in Zaatari tätig ist. Ob man das vergleichen könne mit 2015, als die Hilfe in den syrischen Nachbarländern gekürzt wurde und sich daraufhin viele Flüchtlinge nach Europa aufmachten? "Das ist schwer zu sagen, auszuschließen ist es nicht."

Der Ergänzung halber muss festgehalten werden, dass vor drei Jahren vieles über die Türkei lief. Heute gibt es den Flüchtlingsdeal zwischen Ankara und Brüssel, zudem hat die Türkei Anfang 2016 die Visumspflicht für Syrer aus Drittstaaten eingeführt. Also von Jordanien in die Türkei zu fliegen und dann über die Balkanroute nach Europa zu gelangen so wie damals ist kaum noch möglich.

In Zaatari sind etwa 26.000 Container aufgestellt.
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Derzeit deutet in Jordanien auf alle Fälle nichts auf eine größere Fluchtbewegung hin, dort wo 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge außerhalb der Camps leben. Zum besseren Verständnis: Wer sich entschließt, die Lager mitsamt ihrer Unterstützung zu verlassen, für den gibt es kein Zurück. Das hat Faiez Khaled Al Zahab aber ohnehin nicht vor. Der 49-Jährige verließ Zaatari 2013 nach nur wenigen Monaten. "Es hat uns dort alle krank gemacht", erklärt er. Damals, das bestätigen auch Offizielle, war Zaatari weit chaotischer als heute. Teilweise wurden dort an die 125.000 Menschen untergebracht. Konzipiert war das Camp eigentlich für 60.000 Personen.

Im Flüchtlingslager gibt es 3.000 inoffizielle Shops. Inoffiziell deshalb, weil die Besitzer keine Steuern zahlen, die Behörden tolerieren das aber.
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Nun wirkt Zahab zufrieden, er führt ein Leben ohne Zäune. Paradiesisch ist es hier, in Mafraq, allerdings auch nicht gerade. Zehn Kilometer westlich von Zaatari ist er am Rande einer Stadt sesshaft geworden, in der 300.000 Syrer und 200.000 Jordanier wohnen. In einem früheren Leben war er in Homs als Bauherr tätig, gut sei es ihm dort gegangen: "Wir wohnten in einem großen, selbstgebauten Haus, mit den Nachbarn haben wir immer Feste gefeiert." Dann kamen die Bomben, aus der Luft, bei Tag und bei Nacht.

Jetzt lebt er direkt neben einer vierspurigen, stark befahrenen Straße. Lkws brausen alle paar Minuten lautstark vorbei, der Muezzin ruft nicht weit entfernt zum Gebet auf, von einer Mauer grüßen Popeye und seine Freundin Olivia. Zahab lebt mit seinen Eltern in einem seltsamen Konstrukt mitten auf dem Hof. Auf Ziegelmauern sind mehrere Planen mittels Schnüren und Autoreifen befestigt, innen zieren Betten, Teppiche, ein Gaskocher und ein Fernseher die vielleicht 20 Quadratmeter. Man will sich gar nicht vorstellen, wie kalt es hier ist, wenn im Winter die Sonne verschwindet und die Nacht den Tag verdrängt.

Faiez Khaled Al Zahab (links) mit seinen Eltern im ehemaligen Hühnerstall.
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80 Dinar Monatsmiete zahlt Zahab, hinzu kommen 20 Dinar für den Strom. Sie kommen gerade so zurecht, erklärt er, mithilfe des UNHCR, mithilfe des WFP und auch mithilfe der Caritas Jordanien, die gemeinsam mit der Caritas Österreich zahlreiche Projekte zur Unterstützung der Flüchtlinge durchführt. Eng wird es nur beim Vater, der stolz mit seiner Kufiya im Inneren des Hauses auf einer Matratze sitzt. Der 85-Jährige leidet an grauem Star. Ein Auge wurde bereits operiert, 400 Dinar waren dafür vonnöten. Für das zweite Auge fehlt aber das Geld.

Wie es in der Heimat gerade zugeht, erfahren sie aus dem Fernsehen, Kontakt nach Homs gibt es keinen. Frieden ist aber nicht in Sicht, das sei ihnen klar, sagt die Mutter. "Wir sind froh, dass es hier keinen Krieg gibt. Die Jordanier sollen nicht das gleiche durchmachen müssen wie wir," erklärt sie.

Im Hof vor dem Haus gibt es eine kleine Sitzecke.
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Sich woanders niederzulassen sei keine Option. "Jordanien ist unser zweites Zuhause geworden", sagt der Sohn, der nur nebenbei erwähnt, dass das Haus früher ein Hühnerstall war. Das Land zu verlassen wäre derzeit sowieso schwierig. Größere Resettlement-Programme vor allem nach Deutschland, Frankreich und Kanada gibt es seit 2017 nicht mehr. Neuansiedlungen sind nur noch selten über Botschaften möglich, und das dann auch nur in kleineren Gruppen. Österreich hat in den vergangenen Jahren insgesamt 624 syrische Flüchtlinge aus Jordanien aufgenommen. Das Programm ist nun ausgelaufen, eine Verlängerung müsste die neue Bundesregierung beschließen. Das ist eher unwahrscheinlich.

Neid auf Flüchtlinge

Ein heikles Thema bleiben die Jobmöglichkeiten für Flüchtlinge. Grundsätzlich klingt es plausibel: Arbeiten sie, liegen sie niemandem auf der Tasche. Doch genauso plausibel ist es, dabei auf die einheimische Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, um keinen Neid zu erzeugen. Hört man sich auf den Straßen Ammans um, ist aber genau das bereits eingetreten.

Unter anderem mit Autoreifen soll verhindert werden, dass die Planen, die als Dach dienen, nicht vom Wind weggeweht werden. Im Hintergrund ist an der Mauer Popeye zu sehen.

Als Stadt der vielen Hügel wird die jordanische Hauptstadt gerne bezeichnet. Im Großraum Amman leben an die vier Millionen Einwohner, im gleichnamigen Gouvernement haben sich etwa 186.000 syrische Flüchtlinge niedergelassen. Beliebt ist bei ihnen Downtown im Herzen der Metropole, weil die Mieten niedrig sind. Die Caritas hat deshalb dort auch ein Sozialzentrum für Flüchtlinge errichtet.

Nicht weit weg davon entfernt wartet Qais Jabar auf einen Freund. Es ist neun Uhr früh, Amman ist gerade dabei aufzuwachen. Die sonst vollen Straßen sind noch leer. Vor allem in den engen Gassen, die sich die vielen Hügel hinaufschlängeln, herrscht meist reges Gedränge. Jabar, ein 25-jähriger Mechaniker, ist akkurat gekleidet, violetter Pullover, Sakko darüber, Jeans, dazu ein gepflegter Vollbart und die Haare nach hinten gegelt. Er hat viele Syrer als Freunde, beginnt Jabar, er zeige viel Mitgefühl für ihre Lage.

Doch gleichzeitig bekomme er die zunehmenden Spannungen zwischen Jordaniern und Syrern mit. Für Jabar ist klar, woran das liegt: "Sie zerstören den Arbeitsmarkt, weil sie viel weniger Lohn akzeptieren. Sie nehmen uns die Jobs weg und bekommen dann noch Geld von den Hilfsorganisationen, gleichzeitig müssen sie keine Steuern zahlen", kritisiert er. Die Golfstaaten sollen mehr spenden, wenn sie schon keine Flüchtlinge aufnehmen, dann müssten die Syrer nicht mehr arbeiten und es gäbe keinen Wettbewerb um Jobs. Und überhaupt, sagt Jabar: "Alle Flüchtlinge sollten am besten in Lagern bleiben." Denn sie würden zusätzlich die Mietpreise in die Höhe treiben.

Qais Jabar will, dass alle Flüchtlinge in Camps leben.
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Ähnlich sieht es der 63-jährige Taxifahrer Mahmoud Ibrahim Al Rawashdeh: "Man sollte die Syrer von uns trennen. Wir sollen doch von ihnen profitieren, nicht sie von uns." Außerdem, klagt er, seien sie die einzigen, die bei den Taxipreisen verhandeln wollen.

Grundsätzlich erhalten Syrer Arbeitsgenehmigungen nur für niedere Jobs, in Fabriken, in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe. "Sie bekommen die Papiere und arbeiten dann aber etwas ganz anderes", mischt sich ein anderer Taxler in die Diskussion ein. Oder ein Jordanier eröffnet offiziell einen Shop, und ein Syrer, der dazu nicht befugt ist, führt ihn dann tatsächlich, sagt er.

"Kultur der Schande"

Für Gaby Daw, seit 2003 für die Caritas Jordanien tätig, sorgt das für Stirnrunzeln und einen lautstarken Seufzer. "Ich bezeichne das als Kultur der Schande. Die Jordanier wollen diese Jobs gar nicht annehmen, aber wenn ein Syrer ihn bekommt, regen sie sich auf." Die Wirtschaftskrise im Land, die vor allem Benzin und Brot teurer gemacht hat, führe zu weiteren Spannungen, so Daw. Eine Lösung für die syrischen Flüchtlinge sieht er in naher Zukunft nicht. "Es erinnert mich an die Palästinenser, die zu uns flüchteten und davon ausgingen, in ein paar Tagen zurückzukehren. Dann wurden aus Zelten Häuser, und daraus dann größere Häuser."

Downtown in Amman ist bei Syrer sehr beliebt, weil die Mietpreise niedrig sind.
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Hinter den Taxlern springen die Rollläden eines Kleidungsgeschäfts in die Höhe. Der Besitzer lugt aus dem Fenster und fragt, worum es geht. "Ja, die Syrer nehmen uns die Jobs weg", klagt er lautstark. Und verschwindet wieder in seinem Geschäft. (Kim Son Hoang aus Zaatari, Mafraq und Amman, 24.2.2018, Titelbild Credit: Hoang)