Linz – Franz Huber* blinzelt mit den Augen und heftet seinen Blick auf die Ärzte, die sich gerade in seinem Krankenzimmer besprechen. Er scheint zuzuhören, aber so genau kann man das nicht sagen. Hin und wieder rührt er sich, zuckt oder hebt kurz den Oberkörper, ansonsten ist er regungslos.

Huber hatte im vergangenen September während eines Betriebsausfluges einen Herzinfarkt erlitten und musste mehrfach reanimiert werden. Dabei bekam sein Gehirn zu irgendeinem Zeitpunkt zu wenig Sauerstoff, er fiel in ein Wachkoma. Zwei Monate zeigte der ehemalige Voestarbeiter keinerlei Reaktion, er lag bloß mit offenen Augen da, erzählt seine Frau Renate, die jeden Tag an seinem Bett im Wagner-Jauregg-Spital in Linz sitzt. Jetzt hat sich das geändert. Spricht ihn seine Frau an, antwortet er mit einem lauten Hauchen. In wachen Momenten versuchen seine Augen allem zu folgen, was rundherum passiert. "Er kriegt alles mit", sagt sie. Wenn man 28 Jahre lang verheiratet ist, weiß man sich ohnehin ohne Worte zu verständigen.

Gehirn-Computer-Schnittstellen ermöglichen selbst Patienten im Wachkoma zu kommunizieren.
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Minimal Conscious State, minimaler Bewusstseinszustand, lautet die Diagnose. Das bedeutet, dass die Gehirn- und damit auch die körperlichen Funktionen zwar stark beeinträchtigt sind, die Betroffenen aber dennoch gelegentlich auf äußere Reize reagieren. Herauszufinden, inwieweit Patienten mit Hirnschädigungen ein Bewusstsein haben, ist nach wie vor eine große Herausforderung für die Medizin. Studien sprechen von einer bis zu 40-prozentigen Rate an Fehldiagnosen – das heißt, dass ein großer Teil der Patienten zu Unrecht als apallisch, also nicht wahrnehmungsfähig, eingestuft wird.

Gedankenübertragung

In der Neurologie des Kepler-Universitätsklinikums (ehemals Wagner-Jauregg) setzt man auf eine Art Gedankenübertragung, um die Fehlerrate zu senken: Mithilfe von Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer (Brain Computer Interface oder BCI) werden Veränderungen in der Gehirnaktivität gemessen und automatisch analysiert. So kann festgestellt werden, wie viel ein Patient von seiner Umwelt wahrnimmt – und auch, ob er allein über seine Vorstellungskraft kommunizieren kann.

Franz Huber ist bereit für den zweiten Testdurchlauf, den er heute absolviert. Auf dem Kopf hat der 56-Jährige mit dem Schnauzbart eine EEG-Haube mit 16 Elektroden, die an bestimmten Stellen des motorischen Kortex die Hirnaktivität auffangen und mit einem Laptop verbunden sind. An den Handgelenken trägt er Manschetten, die sanfte Vibrationen abgeben können. "MindBeagle" heißt das System, das von der Firma Guger Techologies (G.tec), einem Spin-off der TU Graz mit Standorten in Graz, Schiedelberg (OÖ), Barcelona und Albany (New York) entwickelt wurde – eines von wenigen weltweit, die bereits im klinischen Einsatz sind. Die Firma ist unter den sechs Nominierten für den Staatspreis Innovation, den das Wirtschaftsministerium am 22. März vergibt.

Hochschlagende Gehirnwellen

Maßgeblich sind für diese Technologie die sogenannten P300-Wellen, Gehirnwellen, die genau 300 Millisekunden nach einem Ereignis ausschlagen – sei es ein akustisches Signal oder ein sonstiger Reiz, der Aufmerksamkeit erfordert. Beim ersten Test bekommt Huber Kopfhörer aufgesetzt, und ein Krankenpfleger erklärt ihm langsam und deutlich den Ablauf: Huber wird hohe und tiefe Töne hören, soll aber nur die hohen zählen. "Wird das Gehirn auf einen hohen Ton aufmerksam, reagiert es automatisch", erklärt Andrea Kammerhofer, Leiterin der Abteilung für neurologische Funktionsdiagnostik am Kepler-Uni-Klinikum. Das Zählen bzw. die Konzentration darauf zeigt, inwieweit der Patient bewusst zuhört.

Mit EEG-Haube und vibrierenden Manschetten an den Handgelenken wird getestet, ob das Gehirn auf äußere Reize reagiert (Symbolfoto).
Foto: gtec/Johannes Gellner

Der Test ist erfolgreich: Nachdem sich die wellenförmigen Linien des EEG mehrere Minuten über dem Bildschirm fortgepflanzt haben, gibt der Monitor grünes Licht. Nach einer Phase der Kalibrierung konnten 90 Prozent der Signale richtig zugeordnet werden, das Gehör und die auditive Wahrnehmung funktionieren also. Nach einer kurzen Pause folgt das nächste Level: Hubers Handgelenke werden nun auch mit taktilen Reizen stimuliert, er soll sich dabei nur auf eine Seite konzentrieren.

Vorgestellte Handbewegung

Im nächsten Schritt wird Huber angeleitet, sich vorzustellen, die rechte oder die linke Hand zur Faust zu ballen. "Die Vorstellung eines Bewegungsmusters genügt, damit im motorischen Bereich des Gehirns der gleiche Reiz ausgelöst wird wie bei einer tatsächlichen Bewegung", sagt Alexander Heilinger, der bei G.tec forscht und die Tests begleitet.

Funktioniert diese Übertragung, können Patienten Ja/Nein-Fragen beantworten, indem sie sich vorstellen, bei Ja die linke Hand zu ballen und bei Nein die rechte. So könnten schwerstbeeinträchtigte Menschen mit der Kraft der Gedanken nicht nur einfache Dialoge führen, sondern auch einen Computer oder die vernetzte Technik eines Haushalts steuern. Besonders profitieren könnten Menschen mit Locked-in-Syndrom, die zwar bei Bewusstsein, aber vollständig gelähmt sind. Neun von zwölf Locked-in-Patienten und zwei von drei kompletten Locked-in-Patienten konnten mit "MindBeagle" wieder kommunizieren, zeigten Forscher von G.tec und der Universität von Palermo in einer Studie, die im Vorjahr im Fachblatt "Frontiers in Neuroscience" erschien.

Das Video zeigt den Fall einer italienischen ALS-Patientin, die dank Brain-Computer-Interface wieder mit ihrer Tochter kommunizieren konnte.
gtec medical engineering

Noch sind derartige Schnittstellen außerhalb der Forschungslabore kaum zu finden, geschweige denn in der alltäglichen Anwendung. "Etwa 20 Systeme sind in Kliniken weltweit im Einsatz", sagt Christoph Guger, Geschäftsführer von G.tec. Das Forschungsunternehmen arbeitet unter anderem mit der Harvard-Universität zusammen, die Daten fließen in das EU-Projekt ComaWare ein.

Im Linzer Uni-Klinikum werden die BCI-Tests seit eineinhalb Jahren durchgeführt, zehn Patienten im Wachkoma oder mit minimalem Bewusstseinszustand nahmen bisher an der Studie teil. "Drei davon konnten signifikante Antworten geben", berichtet Tim von Oertzen, Vorstand der Klinik für Neurologie 1. "Das eröffnet einen Zugang zu Patienten, die sich sonst nicht äußern können." Mit eindeutigen, über die Gehirnsignale feststellbaren Willensäußerungen könnten Patienten nicht zuletzt selbstbestimmte Entscheidungen treffen, auch ihre weitere Behandlung betreffend, betont von Oertzen.

Gehirnströme interpretieren

Franz Huber ist fertig mit dem Test, bei dem er sich vorstellen soll, eine Hand zu ballen. Die Ergebnisse zeigen, dass die linke Gehirnhälfte aufmerksamer ist als die rechte. "Er ist jetzt müde", sagt seine Frau, während sie seine Hand streichelt. Sie lässt sich ihren Optimismus nicht nehmen und wischt schnell die Tränen aus dem Augenwinkel, wenn sie von ihrer gemeinsamen Tanzleidenschaft erzählt. "Jetzt spiele ich ihm die Musik eben vor", sagt sie.

Die Ärzte beschließen, den Test in der nächsten Woche auszubauen. Sie wollen Huber einfache Fragen stellen, die er mit Sicherheit mit Ja oder Nein beantworten kann, etwa nach dem Vornamen seiner Frau. "Beide lernen, der Patient und das System", sagt Alexander Heilinger. Maschinelles Lernen ermöglicht es, dass die Algorithmen die jeweiligen Gehirnströme richtig interpretieren. Auch die Patienten werden im Lauf der Tests meistens immer besser bei der Bewältigung der Aufgaben.

Patient und Algorithmen – beide lernen im Verlauf der Tests.
Foto: Foto: gtec/Johannes Gellner

Dennoch stehen BCI-Forscher vor der Herausforderung, aus dem Rauschen der unzähligen Gehirnströme jene Wellen herauszufiltern, die wirklich aussagekräftig sind. Schließlich sendet das Gehirn sehr individuelle Signale aus und verändert sich ständig und abhängig von Tagesverfassung. "Es wird viel daran geforscht, die Tests an die Patienten anzupassen und zu verkürzen", sagt Heilinger. Dem Ziel der Forscher, während der Tests möglichst viele Daten zu sammeln, um das System genauer zu machen, steht die beschränkte Aufmerksamkeitsspanne der Patienten gegenüber.

Franz Hubers dritter Testlauf hat keine "reproduktiven Antworten" gebracht, berichtet Tim von Oertzen. "Der Patient kann eindeutig Befehle wahrnehmen. Fragen zu beantworten und komplexere Entscheidungsprozesse durchzuführen ist aber in seinem Bewusstseinszustand nicht möglich." Möglicherweise würden die Tests zu einem anderen Zeitpunkt andere Ergebnisse bringen, betont der Neurologe, der ein Projekt zur Langzeitbeobachtung plant. Vielleicht kann auch Franz Huber noch einmal an so einem Projekt teilnehmen. Er wurde Anfang Februar zu seiner Familie entlassen. (Karin Krichmayr, 28.2.2018)

* Name von der Redaktion geändert.