"Es fehlt das Quellenbewusstsein, obgleich doch die Quelle eigentlich das entscheidende Signal ist, um die Qualität und Güte von Informationen einzuschätzen", sagt Medienwissenschafter Bernhard Pörksen.

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Facebook und Co sollten zu mehr Transparenz gezwungen werden, findet Pörksen: "Was wird gelöscht, was nicht? Wie funktionieren die Algorithmen? Woher kommen die Werbegelder?"

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STANDARD: Anonyme Wutausbrüche, Exzesse der Skandalisierung und kollektive Erregung – Ihr Befund unter dem Titel "Die große Gereiztheit" zeichnet ein ernüchterndes Bild über unser Leben in einer vernetzten Welt. Sie sprechen schon von einer Empörungsdemokratie. Ist es wirklich so schlimm?

Pörksen: Ich beschreibe den Wechsel von der Mediendemokratie der alten Welt hin zu der Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Die Mediendemokratie war geprägt von klassischen Massenmedien und der enormen Deutungsautorität von Journalisten, die entscheiden, was relevant ist und was nicht. Heute kann sich jeder Mensch barrierefrei zuschalten. Wobei ich dies keineswegs nur negativ sehe. Empörung hat oft ein doppeltes Gesicht. Mal ist sie gemeines Spektakel, Mobbingattacke, enthemmter Hass. Und dann wieder wirkt sie als gesellschaftsverändernde Kraft. Denken Sie etwa nur an die #MeToo-Debatte, die das viel zu lange übersehene Thema der sexualisierten Gewalt global auf die Agenda gesetzt hat.

STANDARD: Im Guten können Missstände aufgezeigt und im Schlechten Menschen an den Pranger gestellt werden. Schafft das Wissen darum eine Verunsicherung, die hektisch und gereizt macht?

Pörksen: Ja, jeden kann es treffen. Prominenz und Fallhöhe sind keine Schlüsselkriterien mehr für die Attacke. Aus Befragungen wissen wir, dass rund 40 Prozent der Menschen online schon einmal bedroht wurden, 70 Prozent kennen jemanden, dem dies widerfahren ist. Die leichte Skandalisierbarkeit trägt zu einer allgemeinen Verunsicherung bei. Ich zeige: Wir erleben einen Paradigmenwechsel weg vom Ideal der informationellen Selbstbestimmung, also dem Recht, selbst über die Verwendung personenbezogener Daten zu bestimmen, hin zu einem Grundgefühl der informationellen Verunsicherung.

STANDARD: Keiner weiß, wo seine Daten überall landen ...

Pörksen: ... wer sie benutzt, was jemand weiß und ob womöglich Dokumente aus der Vergangenheit eines Tages in beschämenden Kontexten zu einem zurückkehren. Hinzu kommt ein Dauerbombardement mit Informationen, von denen man doch weiß oder zumindest ahnt, dass sie leicht manipulierbar sind. In der Frühphase der Netzkommunikation regierte die Hoffnung: Mehr Information macht uns automatisch mündiger. Heute wissen wir: Immer mehr Information macht Desinformation effektiver. Warum? Weil man sich irgendwann einfach nach der Ruhebank fester Wahrheiten und Gewissheiten sehnt und dann auf das zurückfällt, was man ohnehin glaubt. Das Netz kommt der allgemeinen Bestätigungssehnsucht des Menschen sehr weit entgegen.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Nutzer überhaupt wissen, was alles möglich ist?

Pörksen: Die Befunde sind relativ eindeutig. Es gibt kein Bewusstsein für die weitgehend intransparente Regulierung von Informationsströmen durch Algorithmen. Das zeigen unterschiedliche Studien. Und es wird in sozialen Netzwerken oft gar nicht wahrgenommen, aus welchem Medium eine Nachricht stammt. Das heißt, es fehlt das Quellenbewusstsein, obgleich doch die Quelle eigentlich das entscheidende Signal ist, um die Qualität und Güte von Informationen einzuschätzen. Kurzum: Wir sind in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten.

STANDARD: Pubertät bedeutet aber auch: Wir lernen das noch?

Pörksen: Ja. Die mentale Pubertät ist – so betrachtet – eine Zwischenphase des unkontrollierten, reizbaren, oft unreifen und durch Grenzüberschreitung suchenden Vorgehens. Wir sind unseren Medien schlicht noch nicht gewachsen.

STANDARD: Balgende Hunde, kuriose Tricks mit Katzen – infantilisieren wir nicht doch viel mehr?

Pörksen: Wir erleben eine ungeheure Öffnung des kommunikativen Raumes und eine verstörende Gleichzeitigkeit des Seins: Das Katzenvideo steht neben der relevanten Enthüllung. Da sind Folterbilder, da findet sich eine berührende Geschichte. Und man entdeckt nur ein paar Klicks entfernt die Fotos eines seltsamen Riesentintenfisches. Diese Dauerkonfrontation mit dem so Unterschiedlichen überfordert und erzeugt eine Gereiztheit. Wir müssen heute anders unterscheiden lernen. Was ist relevant? Was stimmt? Und was stimmt nicht?

STANDARD: Derartige Videos und Geschichten gibt es auch auf klassischen Medienseiten. Ein Fehler?

Pörksen: Das lässt sich nicht vermeiden, weil auch der klassische Journalismus unter ungeheurem Druck steht. Die sozialen Medien haben einen grundsätzlichen Wandel angestoßen und verschärft – von der Information zur Emotion. Emotionalität ist der entscheidende Treibstoff. Und auch die Vertreter der klassischen Medien müssen sich natürlich überlegen, wie Information verpackt werden kann, sodass sie ihr Publikum findet. Sonst sind sie irgendwann zu wenige auf der Webseite der Zeitung.

STANDARD: Allerorts wird vom postfaktischen Zeitalter gesprochen. Sie lehnen den Begriff ab. Warum?

Pörksen: Natürlich beschreibe ich selbst eine Art Zeitenwende, analysiere die veränderte Kommunikation unter digitalen Bedingungen. Und doch ist mir das Hobby von Geistes- und Sozialwissenschaftern, mit maximalem Furor immer neue Epochen auszurufen, verdächtig. Fast scheint es, als wolle man die eigene Einflusslosigkeit durch möglichst dramatische Zeitdiagnosen überspielen. Und was haben wir nicht schon alles durchgestanden – die Postmoderne, den Posthumanismus, die Postdemokratie und jetzt eben das postfaktische Zeitalter. Aber ganz ernsthaft: In der Logik des Begriffs liegt die Behauptung, es habe jemals eine Ära der Fakten gegeben. In Kenntnis der Lügen in der Menschheitsgeschichte würde man gerne wissen, wann das genau war. Und: Postfaktisch ist eine Resignationsvokabel. Was soll man schon gegen ein Zeitalter tun? Dieses heimliche Plädoyer für die gleichgültige Akzeptanz einer Wahrheitskrise stört mich.

STANDARD: Helfen strengere gesetzliche Maßnahmen gegen den Hass und die Lüge im Netz?

Pörksen: Gesetze sind kein Allheilmittel, schon gar nicht im Bereich der Netzkommunikation. Vor allem müssen wir über die Regeln und Formen des Miteinander-Redens debattieren und streiten. Ich selbst plädiere beispielsweise für Plattformräte, in denen Juristen, Vertreter des Unternehmens, Journalisten, Wissenschafter und User sitzen. Der Grundgedanke ist: Bürger sollten lernen, die Plattform als Medium zu begreifen, das seinen eigenen Richtlinien folgt. Im Moment können wir bei Zeitungen etwa die Blattlinie einschätzen, aber was ist mit einer Plattform? Wie geht sie mit Neonazis um? Was wird gelöscht, was nicht? Wie funktionieren die Algorithmen? Woher kommen die Werbegelder? Hier müssen wir die Plattformen zu mehr Transparenz zwingen, um dann bewusster zu entscheiden: Gefällt mir die Linie meiner Plattform? Und wir brauchen ein eigenes Schulfach, in dem die Kunst der öffentlichen Rede geübt und die Macht der Desinformation analysiert wird.

STANDARD: Wird so ein Schulfach je eingeführt werden?

Pörksen: Ich halte dies nicht für realistisch, weil die deutsche Bildungslandschaft so zersplittert ist und der Politik ein Gespür für die gewaltige Aufgabe digitaler Medienmündigkeit fehlt. Und doch bleibe ich bei meiner Forderung, ein bisschen wie Sisyphos im Land der Föderalismen. Am Rande: Vieles, was nötig wäre, lässt sich aus den Maximen des guten Journalismus ableiten – das Bemühen, einer Thematik auf den Grund zu gehen, den Kontext und die Quelle zu prüfen, erst zu recherchieren und dann zu publizieren, auch die andere Seite zu hören usw. Hier findet sich eine Kommunikationsethik für die Allgemeinheit.

STANDARD: Wie halten Sie es selbst mit Hasspostings und Co?

Pörksen: Ich registriere sie, schaue sie manchmal an und versuche, sie möglichst schnell zu vergessen. Das gelingt keineswegs immer. (Peter Mayr, 28.2.2018)