Wien – Ursprünglich war der Waldrapp ein häufig vorkommender Brutvogel, der den Winter in Afrika und auf der Arabischen Halbinsel verbracht haben dürfte. Heute gibt es nur noch zwei freilebende, aber sesshaft gewordene Restpopulationen in Marokko. In Österreich brütete der Waldrapp unter anderem auf dem Mönchsberg in Salzburg und auf dem Schlossberg in Graz. Aufgrund der Bejagung war er jedoch 1630 in ganz Europa ausgerottet.

2002 wurde der Förderverein Waldrappteam mit dem Ziel gegründet, die Art wieder als Brutvogel im nördlichen Alpenvorland anzusiedeln und auch wieder als Zugvogel zu etablieren. Vor allem Letzteres stellte die beteiligten Wissenschafter vor Probleme: "Niemand weiß, wo ihre ursprünglichen Winterquartiere lagen", wie Waldrappteam-Leiter Johannes Fritz erklärt. Auch die Vögel selbst nicht: Junge Waldrappe hätten zwar eine angeborene Neigung zum Zug, brauchten aber ein erfahrenes Tier, das ihnen beim ersten Mal vorausfliegt. In langjährigen Versuchen wurde dafür eine aufsehenerregende Methode mit menschlichen Zieheltern entwickelt: Diese fliegen an Bord eines Ultraleichtflugzeugs voraus, und die handaufgezogenen Jungvögel folgen ihnen in ein Überwinterungsgebiet in die Toskana.

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Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Dieser friedliche Vogel, der Waldrapp, mag trotz des prächtigen Federkleids verstören. Er ist aber eine beeindruckend lernfähige Kreatur mit sozialem Verhalten.
Foto: dpa / Fredrik von Erichsen

Die Jungvögel kehren spätestens nach drei Wintern, mit Beginn der Geschlechtsreife, in eines der Brutgebiete – Burghausen in Bayern und Kuchl in Salzburg – zurück. Nebenbei liefern sie jedoch auch Antworten auf alte Fragen der Wissenschaft, allen voran, warum sie wie so viele andere Zugvögel in V-Formation fliegen.

Erhöhte Sterblichkeit

Die Anstrengung des Fluges ist zu einem Teil für die erhöhte Mortalität der Vögel während des Zuges verantwortlich: Bei Schneegänsen etwa schätzt man die Ausfallraten auf ihrem fast 5.000 Kilometer langen Herbstzug auf fünf Prozent für Erwachsene und 35 Prozent für Jungtiere. Dementsprechend nahm man schon länger an, dass die V-Formation den Vögeln hilft, Energie zu sparen.

Beim Flug fließt komprimierte Luft von unterhalb der Flügel an deren Oberseite und erzeugt dabei an der Außenseite Wirbel, die dem nachfolgenden Vogel Auftrieb geben können. Basierend auf der Aerodynamik von Flugzeugen berechnete man die Positionen, an denen die Vögel in einer V-Formation am meisten von diesem Auftrieb profitieren sollten. Die Überprüfung ließ jedoch auf sich warten, denn nicht nur sind die Flugmuster von Vögeln aufgrund der Dynamik der Flügel ungleich komplexer als die von Flugzeugen; lange Zeit war es auch unmöglich, die Tiere im Flug detailliert zu beobachten. An den handaufgezogenen Waldrappen wurde dies dank technologischer Verbesserungen erstmals machbar: Fritz und seine Kollegen statteten 14 Jungtiere vor ihrem ersten Zug mit einem GPS-Gerät aus, das auch die Körperbeschleunigung aufzeichnet und es erstmals erlaubte, nicht nur die genaue Lage jedes Vogels in Relation zu jedem anderen zu bestimmen, sondern auch ihre Flügelstellung.

Wie in der Theorie

Dabei zeigte sich, dass die Vögel genau in der Position zueinander fliegen, die in der Theorie beschrieben wurde. Doch damit nicht genug: Sie koordinieren allem Anschein nach auch ihre Flügelschläge mit jenen des voranfliegenden Vogels. Je nach Abstand schlagen sie synchron oder bewegen ihre Flügel gegenläufig. "Eine derart komplexe Koordination hat man bisher nicht für möglich gehalten", bemerkt Fritz.

Video: Wiederansiedlung des Waldrapps in Europa.
Johannes Fritz

Fliegen in V-Formation ist also energetisch vorteilhaft – für alle bis auf einen: den Vogel an der Spitze. In weiteren Untersuchungen widmeten sich Fritz und Kollegen der Frage, wie sich dieses scheinbar altruistische Verhalten erklären lässt. Der Einfachheit halber betrachteten sie dafür zuerst einmal Zweiergruppen der Vögel. Wie sich dabei herausstellte, wechseln sich die Waldrappe häufig ab. Wie lange einer vorausfliegt, hängt massiv von der Spanne ab, in der auch der andere die Führungsposition übernimmt. "Das sieht stark nach Zusammenarbeit auf Basis von direkter Reziprozität aus", wie Fritz ausführt, "und damit wie ein Phänomen, das im Tierreich als selten gilt."

Herzschlag der Vögel

In einem demnächst anlaufenden Projekt planen die Forscher, mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF sowohl den energetischen als auch den sozialen Aspekt des Waldrappzuges zu untersuchen. So wollen sie als Maß für den Energieverbrauch den Herzschlag der Vögel im V-Formationsflug und damit die Energieersparnis dabei messen – etwas, das bisher noch nie gemacht wurde. Andere Fragen sollen auch beantwortet werden: Kristallisieren sich im Lauf der Reise Individuen heraus, hinter denen die anderen gern fliegen? Werden Trittbrettfahrer bestraft? Liegt wirklich individuelle Reziprozität vor, oder kooperieren die Vögel einfach mit demjenigen, der neben ihnen fliegt?

Über all dem geht es jedoch darum, den Waldrappbestand weiter auszubauen. Das Waldrappteam will in diesem Zusammenhang den häufigen Stromtod von Vögeln bei der Kollision mit Mittelstromleitungen verstärkt untersuchen. Ein Isolieren der Leitungen könnte Abhilfe schaffen, aber dazu braucht es laut Fritz "noch einiges an Bewusstseinsbildung". Jüngste populationsdynamische Modellierungen geben den Waldrappforschern jedoch Hoffnung: Demnach sollte die derzeitige Population in den nächsten 15 Jahren groß genug sein, um sich ohne menschliche Hilfe dauerhaft halten zu können. (Susanne Strandl, 1.3.2018)