Schieles expressionistisches Schaffen widmete sich Existenziellem wie Tod und Vereinsamung, Sexualität und seelischen Wunden. Hier zu sehen: "Doppelbildnis Heinrich und Otto Benesch" (1913).

Foto: Reinhard Haider

"Tannenwald" (1910)

Foto: Leopold-Museum

"Moa" (1911)

Foto: Leopold-Museum

"Kauernde" (1914)

Foto: Manfred Thumberger

Wien/Linz/Neulengbach – Ein Foto einer Zelle. Nicht irgendeiner, sondern ebenjener Zelle in Neulengbach, in der Egon Schiele vor seinem Prozess wegen "Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit und Schamhaftigkeit" im April 1912 einige Tage in Untersuchungshaft saß. Was vermag uns diese Aufnahme eines Raums von dem heuer vor 100 Jahren von der Spanischen Grippe dahingerafften Künstler zu erzählen?

Das 1963 von der US-amerikanischen Schiele-Forscherin Alessandra Comini geschossene Bild ist ab April im Schiele-Museum in Schieles Geburtsort Tulln zu sehen. Egon Schiele privat heißt die neu konzipierte Präsentation zum Leben des österreichischen Expressionisten. Ein Titel, der an intime Momente denken lässt, an Schieles schwieriges Verhältnis zur Mutter, aber auch an seine Liebschaften und Künstlerfreundschaften wie jene zu Gustav Klimt. Und tatsächlich werden nun dort erstmals Interviews mit Schieles Schwestern Gerti und Melanie einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

Die gerichtlich verordnete innere Einkehr jedoch, der Zustand des Eingesperrtseins an einem Ort der Judikative, er klingt so viel mehr nach aufwühlendem Ausnahmezustand als nach behaglichen Vorstellungen des "Privaten". "Eine Tragödie in seinem Leben war nur seine gerichtliche Belangung", schrieb sein Förderer, der Kunsthistoriker Otto Benesch, später, selbstverständlich nicht ohne zu verhehlen, dass der Umgang des sexuell überaus befreiten Erotikers mit kindlichen Modellen "sorglos" war.

Aufruhr und persönliches Wachstum

Trotz allen zu vermutenden emotionalen Aufruhrs war es aber auch ein Moment des persönlichen Wachstums, so Diethard Leopold. Der Kurator der großen Jubiläumsretrospektive im Wiener Leopold-Museum bezeichnet jene Episode – etwa in der Mitte von Schieles kurzer Schaffenszeit – sogar als "Gefängniszäsur".

Provokation und Melancholie als Medien der Selbstheilung heißt der 2011 erschienene Aufsatz des Psychotherapeuten, in dem er die These verfolgt, Schiele sei der Prozess nicht widerfahren, sondern er habe ihn – wenn auch unbewusst – vielmehr heraufbeschworen. Die Verurteilung war ja auch nicht der Angriff einer spießbürgerlichen Gesellschaft auf einen die Grenzen bürgerlichen Geschmacks überschreitenden Freigeist gewesen, sondern hätte bei denselben Indizien jeden getroffen. Die Haft, so Leopold, war keine existenzielle Bedrohung, sondern bot ihm Möglichkeit zu existenzieller Steigerung – ja zum Erwachsenwerden. "Nicht gestraft, sondern gereinigt fühl' ich mich", formulierte Schiele es selbst.

Als erstes erhaltenes Bild nach dieser psychologischen Wandlung, die Auferstehung mit den sich aus den beengten Gefängnissen ihrer Särge Erhebenden – es ist verschollen -, gilt das Doppelporträt von Heinrich und seinem Sohn Otto Benesch von 1913. Ein ungewöhnliches Bild. Der Sohn frontal, fast verschüchtert, abgeschirmt vom dominanten Arm des streng blickenden Vaters, der mehr dem Sohn zugewandt ist als dem Betrachter. Nachdem Otto Benesch weder vaterhörig noch Vater Heinrich dominant war, handelt es sich womöglich um eine Auseinandersetzung Schieles mit der Figur des abwesenden Vaters, der 1905 gestorben war.

Blick ins Schatzkästlein

Das Gemälde ist das Prunkstück der Schiele-Sammlung des Lentos und in Linz daher auch in der die 1918 verstorbenen Kunstheroen würdigenden Schau Klimt – Moser – Schiele ausgestellt. Auf diese psychologische Expertise muss das Werk allerdings verzichten. Die Präsentation mit ausgesucht schönen Zeichnungen, darunter das zuletzt wieder aufgetauchte Klimt-Blatt, bleibt jedoch, trotz Röntgenblicken auf das von Trude Engel mit einem Messer malträtierte eigene Bildnis, ein Blick ins Schatzkästlein.

Mit der eigenen Kollektion klotzen kann freilich das Leopold-Museum, obwohl es die Dosis mit rund 120 Exponaten und in thematischen Kapiteln in betrachtbarem Rahmen hält. Hier zeigt sich auch, warum Diethard Leopold quasi ein Trumpf jeder Schiele-Betrachtung ist. Wo ein Künstler sein Leben völlig dem Projekt Kunst unterordnet, das Ich und den eigenen Körper als Projektionsfläche für existenzielle Themen nutzt, aus dem eigenen Seelenleben schöpft und daraus so frappierende Innovationen entwickelt, ist der psychologisierende Blick fast unerlässlich: auf Meilensteine wie Die Eremiten (1912), in denen Figuren zu einem einzigen monumentalen Block werden, oder auf Der Lyriker (1911), dessen Körper zerschlagen wirkt in geometrische Formen wie eine suprematistische Komposition. (Anne Katrin Feßler, 2.3.2018)