Labelboss Richard Russell hat jetzt selbst eine Platte gemacht.

Foto: XL Records

Wien – Der erste Song ist die erste Prüfung. Da erhebt der britische Sänger Sampha seine Stimme, alles super, doch wird sie leider von Autotune verfremdet. Also von jenem Unfug, der Justin Bieber und ähnlichen Genies über stimmliche Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen hilft. Aus dieser technischen Krücke für Tiefbegabte ist eine sogenannte Ästhetik geworden. Andererseits zeigt derselbe Song, wie es richtig geht. Dem Autotune-Geflöte steht ein Sample von Curtis Mayfield gegenüber, das versöhnt.

Verantwortlich für diese Mischung aus Graus und Größe ist Richard Russell. Close But Not Quite ist der erste Song seines Albums Everything Is Recorded. Der Titel wirkt erschöpft: Alles ist gesagt, alles aufgenommen. Was gibt es also noch zu tun? Russells Antwort lautet: weitermachen.

XL Recordings

Richard Russel ist 46 und Brite. Er hat 1989 das Label XL Records mitbegründet. Das war zuerst ein Verlag für Dancefloor-Veröffentlichungen, heute gilt es als eines der besten und erfolgreichsten Independent-Labels der Welt. Und das ist hauptsächlich Russells Verdienst. Er hat mit XL Records Bands wie Vampire Weekend, The White Stripes, Radiohead, M.I.A., King Krule oder The xx entdeckt, gefördert und veröffentlicht. Und Adele natürlich.

Russell ist altmodisch

Das britische Soul-Pop-Wunder hat aus Russell einen reichen Mann gemacht und ist gleichzeitig die Garantin dafür, dass er seine Labelphilosophie ausleben darf. Russell ist nämlich altmodisch. Er glaubt an Qualität, daran, dass sich Bands und Künstler entwickeln müssen und dafür Zeit brauchen. Die gesteht er ihnen zu.

Während Majors jährlich dutzende Versuchsballons starten lassen und hoffen, dass zwei, drei oben bleiben, konzentriert man sich bei XL auf wenige Acts. Von denen ist man überzeugt, diesen räumt man weitgehende Freiheiten ein. Russell gilt spätestens seit seiner Entdeckung von Adele als Trüffelschwein im Geschäft, sie hält ihm die Treue, besser wird's für sie wohl kaum, eine schlaue und symbiotische Beziehung.

Ermöglicher für andere

Russell sah sich nie als Musiker, eher als Ermöglicher für andere. Das änderte sich, als ihn eine gefährliche Autoimmunkrankheit niederstreckte und er monatelang mit Lähmungen und Schmerzen kämpfte. Damals entstand der Entschluss, selbst eine Platte aufzunehmen. Der Titel Everything Is Recorded ist schon ein Hinweis auf seine Arbeitsweise: Russell sampelt, verwendet also Material das bereits aufgenommen ist. Freunde und Musiker halfen ihm bei der Arbeit: Damon Albarn, Peter Gabriel, Mark Ronson spielt Gitarre, auf einem Bild im Booklet meint man Warren Ellis von den Bad Seeds zu erkennen.

Die Ergebnisse sind, so sie nicht von Autotune-Spielchen entstellt sind, im elektronischen Soul angesiedelt. In dem Fach reüssierte Russell mit Produktionen von Altmeistern wie Bobby Womack oder Gil Scott-Heron, dem er das Album gewidmet hat. Deren Klasse erreicht die Platte nicht, das weiß er. Russell setzt ohne Erfolgsdruck auf Sofa-Soul, Dancefloor war früher. Es ist Musik für einen Abend unter Freunden, mit Essen und Wein. Russell kocht gern. Da wie dort bescheidet er sich mit wenigen Zutaten und setzt sie maßvoll ein. Die Resultate sind bekömmlich und nicht zu schwer. Am Ende sind alle zufrieden. Über ein Essen beim Boss jammern? Das gehört sich nicht. (Karl Fluch, 6.3.2018)