Biedermeier-Bilder und Szenen wie in Mondlicht getaucht bebildern in Zürich geheimnisvolle Klänge.


Foto: Paul Leclaire

Der Schlaganfall des Dichters Nikolaus Lenau, der vier Jahre vor dessen Tod eine Gesichtshälfte lähmte und das Hirn in zwei Teile spaltete ("Ein Riss geht durch mein Gesicht"), ist gleich zu Beginn die zentrale Szene in Heinz Holligers Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern.

Oper wollte der 78-jährige Schweizer Komponist sein eben uraufgeführtes Werk nicht nennen, schon gar nicht damit eine Künstlerbiografie musikalisch untermalen. Lunea ist somit einerseits als Anagramm für Lenau zu lesen, verweist aber auch auf den Mond und auf Traumwelten.

Holligers Lebensblätter folgen dementsprechend keiner zeitlichen Abfolge, sondern einer Traumlogik, in der sich Zeiten und Räume verschieben und spiegeln, Geburt und Tod etwa, aber auch die Personen: Die Geliebte Sophie Löwenthal wird plötzlich zur innig geliebten Mutter (Juliane Banse), oder die beiden Fastbräute Marie und Karoline verschmelzen (Sarah Maria Sun). Rastlos zwischen Wien und Stuttgart reisend, wird Lenau zwischen den Frauen hin- und hergetrieben.

Es sind lyrische Bilder, die Händl Klaus als Libretto zusammengestellt hat. Er verwendet ausschließlich Lenaus Worte, wobei er Fragmente, Briefe, Schriften aus dem Nachlass verdichtet, die der meist kurz vor der Einlieferung in die Nervenheilanstalt verfasst hat. Händl Klaus vertieft die Transzendenz und verschärft die Modernität des Lyrikers.

Lenau reiht sich in jene in Heilanstalten endenden Dichter ein, die den Komponisten Holliger schon immer faszinierten: Friedrich Hölderlin und Robert Walser. Auch hier illustriert die Musik nicht die Gedanken und Wünsche der Figuren, sondern scheint geradezu den Phonemen und Wortbildern nachzuschmecken.

Lunea ist also eine Reise in Lenaus Hirn, voller subtiler geheimnisvoller Klänge, manchmal nur Geräusche, Rascheln. Das Schlagzeug, von Holliger "Streichelzeug" genannt, grundiert oft zart einzelne Bilder. Manchmal blitzen kurz Zitate auf: Franz Liszt, Volksmusik, ein Madrigal. Dem kleinen Chor hat Holliger geradezu die Rolle eines leisen Instruments zugewiesen: Lenaus innere Stimme.

Ein leiser Sog, der nachhallt

Regisseur Andreas Homoki, Intendant des Hauses, hat mit Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann die einzelnen Lebensbilder beschriftet und durch eine verschiebbare Wand voneinander abgesetzt. Es sind Biedermeier-Bilder: in hellblauen und grauen Tönen, die Frauen in großen Reifröcken, wie in Mondlicht getaucht (Kostüme: Klaus Bruns).

Lunea lebt jedoch vor allem von seinem ausdrucksstarken, facettenreichen Interpreten Christian Gerhaher, dessen kräftigen Ausbrüchen, aber auch leiser Verzweiflung. In der äußerst anspruchsvollen Partie des Lenau ist Gerhaher wohl auch deshalb so souverän, weil er bereits den gleichnamigen, kürzeren Liedzyklus Lunea, aus dem sich Holligers Musiktheater nun entwickelte, vor fünf Jahren interpretierte.

Bewundernswert auch die Energie und Vitalität, mit der Holliger die Philharmonia Zürich selbst dirigiert. Mögen die Lebensblätter sich – anspruchsvoll mit ihren Querverweisen – auch nicht sofort dem Zuhörer erschließen, in einen geheimnisvollen, meist leisen Sog, der nachhallt, wird er unmittelbar gezogen. (Bernhard Doppler, 6.3.2018)