Die Merkel-Raute wird die Politik noch weiter begleiten. Kommende Woche wird die deutsche Kanzlerin wahrscheinlich ihre vierte Amtszeit antreten.

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STANDARD-Korrespondentin Birgit Baumann über die wahrscheinliche vierte Amtszeit von Angela Merkel, ihr Image als Kanzlerin, ihre Visionen für Deutschland und die langwierigen Koalitionsverhandlungen. Ausgewählt hat die Fragen aus den STANDARD-Foren rund um die Berichterstattung zur Regierungsbildung in Deutschland Judith Handlbauer.

Judith Handlbauer: In den STANDARD-Foren kommt Angela Merkel nicht gerade viel Sympathie entgegen. Wie wird ihre Amtszeit und ihre Person in Deutschland wahrgenommen?

Birgit Baumann: Angela Merkel hatte über lange Zeit hohe Sympathiewerte. Nun aber geht sie in ihre vierte Amtszeit, und viele Deutsche haben genug von ihr. Es fehlt die Aufbruchsstimmung, zumal der Koalitionsvertrag kein großes Reformprojekt in wichtigen Bereichen wie der Rente enthält. Merkel wird zunehmend als ideenlos wahrgenommen, als bloße Verwalterin. Man vergleicht sie mit Ex-Kanzler Helmut Kohl (1982–1998), der auch nicht loslassen konnte und 1998 lieber noch einmal selber antreten als an seinen "Kronprinzen" Wolfgang Schäuble übergeben wollte. Noch ist es in der CDU aber zu früh für eine Amtsübergabe, die neue Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer muss sich erst bewähren.

Handlbauer: Was hat Merkel "nur für die Macht" gemacht? Mit welchen Visionen ist Merkel damals als Kanzlerin ins Amt gegangen, und wie sehr haben sich diese Visionen erfüllt/bestätigt? Oder hatte sie zu wenige Visionen für Deutschland?

Baumann: Als Oppositionsführerin hatte sie durchaus Visionen. Da war von einer großen Steuerreform, die alles sehr viel einfacher machen sollte, die Rede. In der Gesundheitspolitik wollte Merkel eine Kopfpauschale. Doch dagegen schlug ihr nicht nur aus der SPD, mit der sie ja gleich in der ersten Amtszeit (2005–2009) koalierte, sondern auch in der CDU Skepsis entgegen. Merkel hat in all den Jahren eine einfache Rechnung aufgemacht: In der Mitte sind mehr Stimmen zu holen als am rechten Rand. Also "modernisierte" sie die CDU, setzte die Wehrpflicht aus, schaffte die Atomkraft ab und ließ zum Schluss der letzten Legislatur sogar die Ehe für alle zu. Niemand wird je sagen können, was davon genau ihre ureigenste Überzeugung war und was dem Trend der Zeit geschuldet. Aber alle Maßnahmen haben dazu beigetragen, sie an der Macht zu halten. Ihrer Überzeugung nach hat sie zunächst in der Flüchtlingskrise gehandelt, indem sie die Menschlichkeit über alles stellte. Danach aber war sie eine Getriebene, die die Konsequenzen zu wenig bedacht hatte.

Handlbauer: Braucht die CDU einen kompletten Wechsel der Protagonisten, wenn Merkel geht?

Baumann: Das glaube ich nicht. Die CDU ist die Partei, die die Kanzlerin stellt. Und man vertraut das Land nicht Menschen an, die bisher in der dritten und vierten Reihe saßen, sich nie in Spitzenämtern bewährt und von Bundespolitik keine Ahnung haben. Ein Generationenwechsel muss wachsen, er kann nicht mit Gewalt herbeigeführt werden. Man muss in Merkels Generation differenzieren: Ursula von der Leyen und Peter Altmaier haben sicher den Zenit ihrer politischen Zeit bereits erreicht. Kramp-Karrenbauer könnte noch weiter aufsteigen.

Handlbauer: Ist Merkel schon zu lange im Amt? Wie wirkt sich die lange Amtszeit auf ihr politisches Handeln aus? Und wurde/wird in Deutschland über eine Begrenzung der Amtszeit nachgedacht?

Baumann: Man kann diese Frage nicht eindeutig beantworten. Merkel selbst fühlt sich topfit und für weitere vier Jahre bereit. Andere meinen, sie sollte gehen. Einiges aus dem letzten Koalitionsvertrag wurde nicht abgearbeitet (Finanztransaktionssteuer, Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, mehr Transparenz bei Managergehältern). Vielleicht war der Gedanke dahinter auch: Man hat ja noch Zeit, wenn es jetzt keine Einigung gibt, dann später mal. Eine Begrenzung der Amtszeit gibt es nicht, es gibt auch keine relevante Diskussion darüber. Dahinter steckt natürlich die Überlegung: Wenn man ein hohes Amt einmal hat, möchte man es so lange wie möglich nicht hergeben. Andererseits können ja die Wählerinnen und Wähler für eine Amtszeitbegrenzung sorgen. Sie dürfen alle vier Jahre den Bundestag wählen.

Handlbauer: Ein User schreibt bei Ihrer Analyse "Merkels schwerer Abschied von der Macht", dass er sich gelungene Abschiedsbeispiele von Politikern, die aus der Politik gehen, wünscht. Was wäre bei Merkel ein gelungener Abschied?

Baumann: Legendär ist der Abschied des langjährigen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP). Er zog sich 1992, nach 18 Jahren im Amt, überraschend und freiwillig zurück, obwohl er sehr beliebt war. Ein gelungener Abschied wäre für Merkel, wenn sie mit ihrem Abgang nicht wartete, bis die Rufe, sie möge doch gehen, lauter werden. Sondern wenn sie eines Tages ankündigt, den Stab zu übergeben, und auch gleich einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin präsentiert.

Handlbauer: Wie sehr kratzt der langwierige Regierungsbildungsprozess am Image der Kanzlerin?

Baumann: Sie hat die Zügel nicht so souverän in der Hand, wie sie glauben machen möchte. Zunächst brachte sie keine Jamaika-Koalition zustande. Zwar war es die FDP, die ausscherte und nicht mehr mitmachen wollte, aber es war Merkel, die eine Regierung bilden wollte und es nicht schaffte. Jetzt kommt die große Koalition, aber jeder halbwegs politisch Interessierte in Deutschland kennt den Preis, den Merkel zahlen musste: Obwohl die SPD mehr als zehn Punkte bei der Wahl hinter der Union lag, konnte sie gleich viele Ministerposten ergattern und noch dazu hochrangige Ministerien (Außen, Finanzen, Arbeit) besetzen.

Handlbauer: Wie werden in der deutschen Bevölkerung die langen Koalitionsverhandlungen wahrgenommen? Was spricht für Neuwahlen, was dagegen? Und wie wird die Stabilität einer Regierung CDU/CSU/SPD eingeschätzt?

Baumann: Die langen Verhandlungen wurden von vielen Menschen als recht "quälend" wahrgenommen. Gleichzeitig witzelte man, dass es eigentlich gar nicht auffalle im täglichen Betrieb, dass Deutschland nur eine geschäftsführende Regierung habe. Zu sofortigen Neuwahlen wird es nicht kommen, da hätte man sich ja nicht so um eine Koalition bemühen müssen. Zusammengerauft haben sich die Koalitionäre aus Angst vor weiteren Stimmenverlusten zugunsten der AfD. Würden Union und SPD nicht koalieren, könnte die AfD bequem sagen: "Die Altparteien bringen nichts zustande." Im Koalitionsvertrag gibt es eine Revisionsklausel, auf die die SPD gedrängt hat, um ihrer widerspenstigen Basis das Ja zu erleichtern. Nach zwei Jahren wird eine Zwischenbilanz gezogen und kontrolliert, ob man schon genug erreicht hat und ob der Koalitionspartner sich nicht bei wichtigen Vorhaben querlegt. Es wird spekuliert, dass die SPD bei großer Unzufriedenheit aussteigen könnte – allerdings nur, wenn die Umfragewerte stimmen. (Birgit Baumann, Judith Handlbauer, 8.3.2018)