Bild nicht mehr verfügbar.

In der Londoner City drängt sich derzeit Baustelle an Baustelle. Die meisten der hier geplanten Hochhäuser sind Wohntürme.

Foto: AP/Justice4Grenfell

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Ruine des Grenfell Tower.

Foto: AP/Augstein

Wien/London – "71 Tote. Und immer noch niemand verhaftet? Wie kann das sein?" Drei Lastwagen mit großen Plakaten fuhren Mitte Februar kreuz und quer durch London, darauf genau diese Aufschriften. Eine Aktion der Gruppe Justice4Grenfell, die sich kurz nach der Brandkatastrophe im Juni 2017 gegründet hatte, bei der nach offiziellen Angaben 71 Menschen ums Leben kamen. Ihr Ziel: Die Opfer sollen nicht vergessen, die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden.

Sie sind nicht die Einzigen: Die Gruppe Grenfell United besteht aus ehemaligen Bewohnern des Turms, die die Katastrophe überlebt haben. Von den 208 Haushalten haben bislang erst 54 ein dauerhaftes neues Zuhause gefunden. Anfangs hatte Premierministerin Theresa May noch versprochen, alle Überlebenden binnen drei Wochen zu versorgen.

Mehr als 300 Sanierungsfälle

Jetzt hofft man beim zuständigen Bezirk Kensington and Chelsea, dass es im Juni so weit ist. Grund für die Verzögerung: Man hat den Überlebenden die gleichen Mietbedingungen wie zuvor versprochen – was sich im überhitzten Markt der Metropole als kompliziert erweist.

Auch die Bemühungen, ein Wiederholen der Katastrophe zu vermeiden, gehen nur langsam voran. Insgesamt 314 öffentliche Bauten und solche über 18 Meter im Vereinigten Königreich haben Fassaden aus demselben ACM-Dämmstoff, der den Bewohnern des Grenfell Tower zum Verhängnis wurde, wie das Government Safety Programme Ende Februar bekanntgab. Bei 301 Bauten muss das Material getauscht werden, 158 davon sind "Social Housing". Bei 92 wurde mit der Sanierung begonnen, bei gerade einmal sieben ist diese abgeschlossen.

Ein zäher Fortschritt, der in diesen Tagen, da die Kältewelle "Beast from the East" die Insel plagt, zusätzlich unerwünschte Auswirkungen hat: In vielen Fällen dauert der Austausch der Fassadendämmung so lange, dass die Gebäude monatelang ungeschützt sind und manche Londoner Bezirke den Bewohnern mit Heizkostenzuschüssen aushelfen, weil in den Wohnungen Frost und Feuchtigkeit herrschen.

Systemänderung gefordert

Währenddessen geht ein offizieller Bericht scharf ins Gericht mit den Baugesetzen und Normen und deren schlampiger Umsetzung durch die Bauindustrie. Diese war es schließlich, die das brennbare Material am Grenfell Tower montiert hatte. Die von Dame Judith Hackitt geleitete Kommission forderte im Dezember eine grundlegende Systemänderung. "Der Zustand, dass alles so billig wie möglich ausgeführt und dann die Verantwortung auf andere abgeschoben wird, muss aufhören", so Hackitt.

Die scharfe Diagnose kommt zu einer Zeit, da die seit Jahrzehnten verfolgte Politik der Privatisierung in Großbritannien auf dem Prüfstand steht. Seit die Baufirma Carillion, an die alles von Wohnbauten bis zum Betrieb von Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen outgesourct wurde, am 15. Jänner 2018 Insolvenz anmeldete und sich ein Abgrund an Management-Hybris und Inkompetenz auftat, ist das Vertrauen, dass der freie Markt alles irgendwie hinbekommen würde, beschädigt.

Angst vor zweitem Grenfell

Doch das erklärt nicht, warum es bei der Sanierung so schleppend vorangeht. Denn die wesentliche Bremse ist eine andere: Niemand will dafür zahlen. Zumindest dort nicht, wo private Developer im Spiel sind. Bei einer der größten betroffenen Wohnanlagen, dem erst fertiggestellten New Capital Quay in London, wurde vor Monaten eine Fülle an Brandschutzmängeln festgestellt. Passiert ist nichts, denn Investor Galliard und Versicherer NHBC streiten sich um die Schlüssigkeit der Nachweise. Währenddessen haben die Bewohner Angst vor einem zweiten Grenfell – und sitzen auf unverkäuflichen Wohnungen.

Den Bewohnern des Citiscape Tower in Croydon flatterten indes Rechnungen von umgerechnet bis zu 35.000 Euro pro Wohnung ins Haus, weil sich der Investor weigert, für die Sanierung selbst in die Tasche zu greifen. Bis der Disput gelöst ist, patrouillieren täglich mehrere "Fire Wardens" durch die Anlage, für deren Kosten ebenfalls die Bewohner aufkommen sollen.

Boom geht weiter

Nicht wenige Kommentatoren forderten unmittelbar nach der Katastrophe einen sofortigen Stopp für Wohnhochhäuser, im traditionell dem Wohnmodell "Haus mit Garten" verhafteten Großbritannien immer eine populäre Meinung. Aktivisten wie die Skyline Campaign sprachen sich schon vor Grenfell aus Gründen des Stadtbildschutzes gegen Hochhäuser aus.

Trotzdem geht der Hochhausboom in London weiter. In der City drängt sich Baustelle an Baustelle, rund 450 Bauten mit über 20 Geschoßen sind bewilligt, wie der London Tall Buildings Survey vermeldet. Fast alle die- ser geplanten Türme sind Wohnhochhäuser.

Erste Alarmzeichen

Die Kritik vieler Architekten und der Skyline Campaign, dass Wohnhochhäuser ungeeignet seien, die akute Wohnungskrise zu lösen, wurde kaum beachtet. Bis jetzt. Denn erste Alarmzeichen suggerieren, dass viele Hochhausinvestoren zu sehr aufs Luxussegment gesetzt haben. Nach Schätzungen der Maklerfirma Savills beträgt die Nachfrage nach Wohnungen mit einem Kaufpreis von umgerechnet maximal 4500 Euro pro Quadratmeter 58 Prozent, doch nur ein Viertel des Angebots liegt in diesem Bereich, der Rest darüber. Der Anteil der Wohnkosten an der Lebenshaltung beträgt in London oft über 50 Prozent.

Währenddessen stehen rund 3000 brandneue Luxuswohnungen leer, so die Immobilienanalysten Molior London. Die zehn Apartments im 2013 eröffneten, 310 Meter hohen Wolkenkratzer The Shard sind nach fünf Jahren immer noch unbewohnt. Die ausgebrannte Ruine des Grenfell Tower ragt derweil immer noch als dunkles Mahnmal in den Londoner Himmel. (Maik Novotny, 10.3.2018)