Schwer oder gar nicht einzuordnen: Matthias Senkel.

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Nacherzählung: zwecklos. Die Übersicht zu behalten: bei Matthias Senkels Dunkle Zahlen schwer. Und dies in dramaturgischer Hinsicht – es wird anschlusslos kreuz und quer durch sieben Jahrzehnte gesprungen – wie angesichts von 63 (!) Romanfiguren. Zudem wäre ein Crashkurs in Kybernetik, das Studium von Charles Babbages Schriften und die Lektüre von The Essential Turing. Seminal Writings in Computing, Logic, Philosophy, Artificial Intelligence, and Artificial Life plus The Secrets of Enigma hilfreich.

Zumindest den zeitlichen Rahmen von Matthias Senkels wie ein Meteor in die Gegenwartsliteratur hineinbrausendem Roman kann man abstecken. Er reicht von 1948 bis zum Jahr 2023. Ort: die Sowjetunion, die spätstalinistische, die Breschnews, die der Perestroika, und die graue Zukunft.

Der Mensch löst Fehlermeldungen aus

Alles dreht sich um Rechenmaschinen, Datensätze, die Digitalisierung der Welt und den anfälligen Quotienten namens Mensch, der Fehlermeldungen auslöst. Es geht um eine Spartakiade hochbegabter Jungprogrammierer im Jahr 1985 in Moskau, um einen Talentwettkampf der sozialistischen Bruderstaaten also. Doch so harmlos ist dies nicht. Weil die Staatssicherheit als Material scheinbar harmlose Daten-Aufgaben stellt, die aber zusammengesetzt essenzielle militärwissenschaftliche Ergebnisse zeitigen.

Es geht um den Programmierer Leonid Ptuschkow, dem wir 1948 als Schüler erstmals begegnen, der mehr als 35 Jahre später der Cheftrainer der russischen Spartakiden ist und weitere 36 Jahre später, als Rentner, durch ein Museum sowjetischer Groß- und Kleinrechner führt. Es gibt einen belgischen Spion. Und eine Konferenz auf einer DDR-Ostseeinsel.

Es gibt Jewhenija Swetljatschenko, eine Geheimdienstlerin, in deren Adern Eis fließt und die ein vernetztes Rechnernetz für die lückenlose Suche nach Erzählern regimekritischer Witze einsetzt. Und es gibt die kubanische Fachübersetzerin Mireya Fuentes, die der Delegation des Zuckerrohrlandes assistieren soll, nebenbei auf der Suche nach ihrem mysteriösen Vater ist und zwischenzeitlich zum Vogel wird, aber auch, zu Schaum aufgelöst, aus der Badewanne gespült wird. Und es gibt einen uralten sprechenden Hecht, der drei Wünsche erfüllen kann und am Ende dennoch verzehrt wird.

Virtuose Verwirbelung

Senkel, 1977 in Greiz in Thüringen geboren und in Leipzig lebend, zitiert in seinem virtuosen Verwirbelungsroman vieles, manches direkt, von James Joyce' Dublin-Roman Ulysses bis zu Guillermo Cabrera Infantes Havanna-Roman Drei traurige Tiger, viel mehr aber indirekt, von den Sprachspielexerzitien französischer Experimentalautoren wie Raymond Queneau und Georges Perec bis zu Verfremdungen russischer Poesie, alles bald Thema für Promotionsstudenten der Germanistik.

Erstaunlich ist, mit welcher Sicherheit Senkel einen ganz eigenen Tonfall stilsicher bis zum Ende durchhält. Es ist ein hochverspielter wie auf sympathisch-verwirrende Weise selbstversponnener Duktus. So ist das Kapitelverzeichnis ein Diagramm. So findet sich ab Seite 314 des Buches eine Auflistung verworfener Mottos, gefolgt von einer langen Liste der Abkürzungsschlüssel, auf die ein Verzeichnis der Romanfiguren folgt. Es gibt Kreuzworträtsel und ein Witzarchiv, Fotografien und am Schluss abstrahiertes grafisches Erzählen.

Ein hochbegabter Autor

Senkel zitiert auch sich selber. Schon in Frühe Vögel, seinem Romandebüt von 2013, für das Senkel mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde, tauchte der Poet Gavriil Jefimowitsch Teterewkin auf, der jetzt einen zweiten Auftritt hat. Die Welt heißt das Maximal-Opus des Russen aus dem 19. Jahrhundert, das ambitionierter nicht hätte sein können: die gesamte Welt in ein Gedicht zu überführen, es solcherart aufzubewahren, alles, vom Größten bis zum Minutiösesten, zusammenzuführen, vom, so Senkel, "Zähnchen der Laus im Bart jener Maus, die unter meinem Bette in einem Astloch der Scheuerleiste wohnt" bis "zu den Schweif- und Fixsternen". Ist das nicht auch der fulminante, schier überbordende Impetus Senkels, der, ganz romantische Volte, nicht als Autor aufscheint, sondern als Übersetzer einer Rechenmaschine?

Einordnen kann man dieses Buch neben anderen hypertrophen deutschsprachigen Literaturprojekten des 20. Jahrhunderts, neben Musils Mann ohne Eigenschaften, Albert Paris Güterslohs Sonne und Mond, Hans Henny Jahnns Fluss ohne Ufer, allem Mittelspäten von Arno Schmidt sowie Stefan Schütz' demnächst erscheinendem Beelzebub I-VI.

Ein höchstbegabtes Buch eines hochbegabten Autors ist Dunkle Zahlen. Senkel sagte, er schreibe nur für sich. Trotz aller Drolerien, allen sprachlichen Glanzes und der opulenten Überfülle an Einfällen drängt sich am Ende dennoch die nicht ganz unwichtige Frage auf: Warum diesen Roman lesen? (Alexander Kluy, 10.3.2018)