Zum Jubeln sind sie auf den Hauptplatz geschickt worden. Das aber ist ihnen nicht besonders gut gelungen. Worüber hätten die Mattersburger Schulkinder auch jubeln sollen? Dass man den Onkel Doktor kurz zuvor aus seinem Haus (links) geworfen hat?

Foto: Mattersburger Stadtarchiv

Mattersburg – Keiner ist darauf gefasst gewesen. Nicht darauf, mit welcher brutalen Unverzüglichkeit der Umbruch geschah. Noch bevor die deutsche Wehrmacht den Walserberg erreicht hatte, rückte Hitlers Fünfte Kolonne aus. Im Burgenland besonders zügig. In Mattersburg so zügig, als fürchteten die illegalen Nazis, beim Aufteilen der Beute zu kurz zu kommen. Und darum machten sie sich schon am 11. März 1938 ohne Verzögerung ans Werk: Franz Giefing, der Ortsgruppenleiter und demnächst Bürgermeister; Anton Weissensteiner, der Kreisleiter; Karl Sobota, sein Stellvertreter, ein Bankbeamter.

Halbwegs sprungbereit war nur der Mattersburger Arzt gewesen, Richard Berczeller. Aber aus anderem Grund. Berczeller war aktiver Sozialdemokrat. Nach dem Verbot der Partei 1934 schloss er sich den Revolutionären Sozialisten an, schmuggelte aus Bratislava die dort gedruckte Burgenländische Freiheit in den heimatlichen Untergrund.

"Gott schütze Österreich"

Nun, am Abend des 11. März 1938, die Familie Berczeller saß beim Abendessen, wich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg mit wortreicher Verzweiflung der Gewalt, drehte via Radio die Augen himmelwärts und bat: "Gott schütze Österreich."

Richard Berczeller war klar, dass Gott das nicht tun würde. Er holte das wegen der Stände-Schergen bereitliegende Fluchtgepäck, den Pass und ein paar Schilling und rannte zum nahen Bahnhof. "Dort warteten bereits", erinnerte er sich in seiner Autobiografie Displaced Doctor, "zwei Gendarmen mit Hakenkreuz-Binden am Arm. Beide waren Patienten von mir." Und nahmen ihn nun – unten in der Judengasse marschierte schon der nicht nur auswärtige Mob, skandierend: "Horuck nach Palästina!" – in "Schutzhaft".

Die Gendarmen mit der rasch auf die Montur montierten Armbinde waren gute Bekannte. No na in der 5000-Einwohner-Stadt, die bis 1924 Mattersdorf geheißen hat. Da hatten sich die Stadtväter Hoffnungen gemacht, Landeshauptstadt des erst vor drei Jahren österreichisch gewordenen Burgenlandes zu werden.

Mit Freunden im Gefängnis

Im Gefangenenhaus des Bezirksgerichts trafen nach und nach gute Freunde ein. Dr. Ludwig Gießkann zum Beispiel, der Zahnarzt. Leo Schotten, der in der Judengasse eine kleine Bettfedernfabrik betrieb. Oder Dr. Ernst Brandl, der gleich neben dem Gerichtsgebäude ein Textilgeschäft hatte. Man entließ sie, verhaftete sie kurz später wieder. Es ist ein grausames Spiel gewesen.

Die Berczellers wurden schon am nächsten Tag aus der Wohnung und der Ordination geworfen. Bei der befreundeten Familie Brandl fanden die Gattin Maria und der Sohn Peter notdürftigen Unterschlupf. Von dort konnte der sechsjährige Peter beobachten, wie die Einrichtung ihrer Wohnung hinausgetragen wurde. "Die Nazis damals, 1938, waren einfach Diebe, die den Juden alles gestohlen haben", sagt er, "die Ideologie ist erst später gekommen."

50.000 Schilling Lösegeld oder KZ

Ernst Brandl berichtete 1947 als Zeuge vorm Volksgericht im Verfahren gegen Karl Sobota, dass dieser, Kreisleiter Weissensteiner und Bürgermeister Giefing ihn vor die Alternative gestellt hätten, entweder 20.000 Schilling zu zahlen oder nach Dachau transportiert zu werden. "Ich sagte zu, obwohl ich den Betrag damals nicht besaß. Daraufhin erhöhte Weissensteiner den Betrag auf 50.000."

Der Raub geschah nicht ohne sadistsche Exzesse. Die Inhaftierten wurden mit Scheinexekutionen gequält, geschlagen und gedemütigt. Ernst Brandl: "Wir durften damals nicht mit Schuhen den Raum betreten und mussten barfuß oder mit Strümpfen dorthin gehen. Mich verurteilte man zu 25 Stockschlägen, die sofort vom Bürgermeister Franz Giefing als Exekutionsorgan vollzogen wurden. Da ich dabei nicht jammerte, wurden mir nochmals 25 Stockschläge von Franz Giefing verabreicht. Abschließend wurde ich von der ganzen Gesellschaft noch geohrfeigt und ins Arrestlokal zurückgeführt." Und so geschah es auch mit anderen "Schutzhäftlingen".

Grausam und gespenstisch

In den jüdischen Häusern wurde geplündert, geschlagen und vergewaltigt. Anton Weissensteiner, so vermerkt es die Anklage am Volksgericht, fuhr in diesen Tagen mit Vorliebe mit dem Auto durch die Judengasse, "und wenn er dabei einem Juden begegnete, ließ er Halt machen, trat auf denselben zu, versetzte ihm ein paar Ohrfeigen und fuhr dann wieder weiter".

Es war nicht nur grausam, sondern auch gespenstisch. Seit 400 Jahren gab es hier eine große jüdische Gemeinde, die nun, 1938, 530 Menschen zählte. Mattersdorf war Teil der Sheva Kehillot, der Siebengemeinde auf Esterházygrund. Unter der Rabbinerfamilie Ehrenfeld wurde Mattersdorf sogar zum theologischen Zentrum einer strengen, etwas aus der Zeit gefallenen Orthodoxie. In die Jeschiwa, die Talmud-Hochschule, wurden junge Männer aus aller Herren Länder geschickt. Man genoss Ansehen. 1931 hatte Bundespräsident Wilhelm Miklas Samuel Ehrenfeld das "Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich" verliehen.

"Erlösung von der Judenplage"

Schon in den Märztagen wurden die ersten Juden aus der Stadt getrieben. Nach einer Verzichtserklärung auf ihr Eigentum wurde ihnen aufgetragen, binnen kurzer Zeit Mattersburg zu verlassen. Streberisch in ihrer Bösartigkeit, amputierten die Schergen dem Städtchen über den Sommer das Schtetl. Am 30. September feierte man, wie das einst rote Kleine Blatt am 8. Oktober verkündete: "Im Zeichen der Erlösung von der Judenplage ließ der Ortsgruppenleiter und Bürgermeister unter Teilnahme einer jubelnden Menge auf dem ehemaligen Judentempel eine weiße Flagge hissen."

Auch der ehrwürdige Rabbi mit seiner Familie musste Mattersburg verlassen. In Pressburg/Bratislava, wohin die Familie enge Verbindungen hatte, sagte man ihnen, so der 2012 mit 89 Jahren verstorbene Akiwa Ehrenfeld: "Ihr habt den Wanderstab schon in der Hand. Zieht weiter."

Die Ehrenfelds wanderten nach New York, wo sie die Mattersburger um sich scharten, die jenes Glück hatten, von dem Peter Berczeller erzählt: "Wir hatten 1938 Glück im Unglück! Da die Vertreibung der Juden aus dem Burgenland mit einer ungeheuren Vehemenz und Rasanz betrieben wurde, waren noch viele Fluchtwege offen." Rund 100 Mattersburger hatten dieses Glück nicht.

Zuflucht in Galizien

Die Brandls mit ihrer zweijährigen Tochter fanden Zuflucht bei Verwandten im einstigen Galizien, erlebten das Kriegsende in Budapest. Sie gehörten zu den ganz wenigen, die zurückkamen. In ein ganz anderes, gewissermaßen verstümmeltes Mattersburg. Der jüdische Friedhof war dem Erdboden gleichgemacht; die Judengasse und das angrenzende alte Ghetto waren geschleift. Die Freunde tot oder in alle Welt zerstreut.

Die Berczellers verschlug es – via Frankreich, Elfenbeinküste, Marokko – nach New York. Immer wieder kehrten sie, von Heimweh getrieben, ins Burgenland zurück. Richard Berczeller wurde zum Mentor und väterlichen Freund des späteren Bundeskanzlers Fred Sinowatz.

Die Ehrenfelds und ihre Gemeinde übersiedelten 1948 ins neu gegründete Israel. Im Norden Jerusalems schufen sie das Kirjat Mattersdorf, wo sie versuchten, das alte Mattersdorfer Leben weiterzuführen. Mittlerweile reist schon der Enkel von Samuel, Isaac Ehrenfeld, als höchster Repräsentant zuweilen in die alte Heimat: zuletzt im vergangenen Herbst, als am leergebliebenen Platz der zerstörten Synagoge Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine Erinnerungsskulptur gewissermaßen eröffnete.

Franz Giefing, Anton Weissensteiner und Karl Sobota mussten sich nach dem Krieg vor dem Volksgericht für ihre Untaten verantworten. Franz Giefing wurde zu Vermögensverlust und drei Jahren schwerem Kerker verurteilt. Anton Weissensteiner erhielt zehn Jahre Kerker. 1949 kam er frei.

Der Minusmann

Karl Sobota wurde zu drei Jahren verurteilt und siedelte sich wieder in Sauerbrunn nahe Mattersburg an, wo er, wie vorm Anschluss schon, sein Brot bei der örtlichen Sparkasse verdiente. 1964 attackierte ihn sein Sohn im Rausch mit einem Hammer. So begann dann endgültig die Häfenkarriere des Zuhälters Heinz Sobota, der in den späten 1970er-Jahren mit dem Buch "Der Minusmann" zu einigem Ruhm gekommen war.

Denn die – wie man so sagt: sinnlose – Gewalt hat auch etwas Faszinierendes. Irritierend, aber faszinierend. Am 16. und 17. März zeigt die Grazer Diagonale eine Doku über den Minusmann, der im Vorjahr 73-jährig verstorben ist. (Wolfgang Weisgram, 10.3.2018)