Der Kanzler ist heute angriffslustig. Leicht kneift er die Augen zusammen, dann holt er aus: Österreich habe "einen Aufholbedarf, was Anstand betrifft", ruft er mit sicherer Stimme vom Pult in Richtung Publikum. Er erlebe eine "Verlotterung der Sitten" in der Politik und ihrem Umfeld.

In einer Aussendung, wenige Minuten später, zitiert ihn seine Medienstelle mit einem Versprechen: Er wolle "die Menschen, die keine Lobby haben, in den Mittelpunkt stellen". Am Ende seiner Rede in Oberschützen sei er dafür mit Standing Ovations bedacht worden, lautet der letzte Satz der Pressemitteilung.

Altkanzler und Sozialdemokrat Alfred Gusenbauer betreibt nun Lobbying.

Wir schreiben den 14. April 2007. Bundeskanzler ist Alfred Gusenbauer. In seiner Ansprache beim burgenländischen Landesparteitag geißelte der Chef der Sozialdemokraten die Machenschaften zwischen Lobbyisten, Beamten und Politikern bei der Eurofighter-Beschaffung. Kein Genosse, der ihm damals lauschte, hätte wohl gedacht, dass ausgerechnet der Name Gusenbauer einmal für Lobbyismus der eher anrüchigen Art stehen würde.

Roter Erklärungsbedarf

Erst vor einigen Tagen geriet der rote Altkanzler wieder in die internationalen Schlagzeilen. Er soll in den Jahren 2012 und 2013 in den USA verdeckt für den damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch lobbyiert haben – im Auftrag des früheren Trump-Wahlkampfleiters Paul Manafort. Gusenbauer dementiert. In seiner Version hat er lediglich für die Annäherung der Ukraine an Europa Stimmung gemacht. Er bestreitet gar nicht, dafür Geld bekommen zu haben – oder wie Gusenbauer es verklausuliert: Die Tätigkeit war "remuneriert". Von wem, ist aber unklar.

Bereits zuvor hatte der Sozialdemokrat seiner Partei Erklärungsbedarf beschert: Er war Berater des kasachischen Diktators Nursultan Nasarbajew und des Glücksspielkonzerns Novomatic. Er sitzt im Aufsichtsrat eines in Rechtsstreitigkeiten verstrickten kanadischen Bergbaukonzerns und soll als "nichtgeschäftsführender" Direktor einer im Steuerparadies Malta ansässigen Firma fungiert haben.

Den mitten im heimischen Nationalratswahlkampf in Israel wegen Geldwäsche festgenommen SPÖ-Berater Tal Silberstein hatte Gusenbauer seinem engen Vertrauten und Nachnachfolger Christian Kern vermittelt. Man fragt sich: Was ist aus dem Mann geworden, der im April 2007 noch schwor, dass er Österreich "zum Besseren" verändern und für "Fairness und Chancen" sorgen werde?

Besser verstehen lässt sich das Phänomen Gusenbauer, wenn man nach links und rechts und ins Ausland schaut. Denn da zeigt sich: Der ehemalige österreichische Kanzler und Sozialdemokrat befindet sich in großer Gesellschaft.

Zahlreiche ehemalige Staatschefs und Politiker, darunter einige, die früher als Anstandswächter und Sauberfrauen, Klassenkämpfer oder Gutmenschen galten, sind nach ihrem Ausscheiden aus der Politik plötzlich in nebulose Geschäfte verstrickt, nehmen "unmoralische Angebote" an, und viele werden – wie Gusenbauer – offen oder verdeckt Lobbyisten.

Das jüngste österreichische Beispiel ist die ehemalige Grünen-Chefin Eva Glawischnig. Einst Kämpferin für ein sauberes Österreich, hat sie nun ebenfalls beim Glücksspielriesen Novomatic angeheuert. Die Satireplattform "Die Tagespresse" hat das dazu veranlasst, unverändert die originale Meldung über ihren Wechsel in die Privatwirtschaft online zu stellen – der Fall lässt sich offenbar nicht mehr zynisch überspitzen.

Die Ex-Grünen-Chefin Eva Glawischnig ist nun für den Glücksspielkonzern Novomatic tätig.

Der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, ebenfalls Sozialdemokrat, ist inzwischen Wirtschaftslobbyist, unter anderem für die Ostseepipeline Nord Stream und das russische Mineralölunternehmen Rosneft.

Ex-Vizekanzler und ÖVP-Chef Michael Spindelegger wurde nach seinem politischen Ende Direktor der "Ukrainischen Modernisierungsagentur". Großbritanniens ehemaliger Premier Tony Blair beriet unter anderem einen südkoreanischen Ölbaron, der wegen Bestechung im Gefängnis saß. José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission bis 2014, lobbyiert nun für die US-Investmentbank Goldman Sachs – und diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Der ehemalige britische Premier Tony Blair beriet unter anderem einen südkoreanischen Ölbaron.

"Mit ehemaligen Politikern versuchen sich Unternehmen Einfluss, Kontakte und Insiderwissen zu kaufen", sagt der österreichische Politikwissenschafter Hubert Sickinger, Gründungsmitglied von Transparency International und Experte für politische Korruption. Er verweist auf die Palette an Politikern verschiedenster Couleurs, die Magna-Gründer Frank Stronach in seinen Konzern holte: Matthias Reichhold, Peter Westenthaler, Franz Vranitzky, Karl-Heinz Grasser. "Wie Stronachs unternehmerische Geschichte zeigte, war das nicht zu seinem Nachteil", formuliert es Sickinger vorsichtig.

Nicht "per se anrüchig"

Lobbying – also das Vertreten bestimmter Interessen vor Entscheidungsträgern – sei jedoch nicht "per se anrüchig" und kein grundsätzlich schmutziges Geschäft, erläutert der Politologe. "Es muss einfach öffentlich sein, wer wessen Interessen vertritt." Und das sei in Österreich nicht wirklich der Fall.

Mit Beginn des Jahres 2013 trat erstmals ein Lobbying- und Interessenvertretungsgesetz in Kraft, das unter anderem die Einführung eines Lobbyingregisters vorsieht. Für jedermann einsehbar ist seither eine Liste mit Firmen und dazugehörigen Namen von Personen, die für diese lobbyieren.

Vollständig sei das Verzeichnis jedoch bei weitem nicht, erklärt Sickinger. Das zeige sich beispielsweise daran, dass Alfred Gusenbauer nicht eingetragen ist: "Es verwundert doch etwas, denn somit dürfte er in den vergangenen fünf Jahren bei niemandem in Österreich für seine Kunden geworben haben."

Bei wem, wofür und gegen welchen Betrag lobbyiert wird, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Darüber hinaus sind zahlreiche Gruppen wie die Sozialversicherungsträger oder Religionsgemeinschaften von den Regelungen des Gesetzes ausgenommen. Es fehle zudem an Kontrolle und Sanktionen, bemängelt die Antikorruptionsorganisation Transparency.

Kein schlankes Bein

Ehemalige Spitzenpolitiker, die Konzerne vertreten, die sie einst kritisierten: Freilich mache das "kein schlankes Bein", sagt Christof Zernatto, erst Landeshauptmann von Kärnten, dann Lobbyist. "Ich wehre mich aber dagegen, dass jeder, der einmal eine politische Funktion innehatte, danach nur noch ehrenamtlich der Caritas helfen darf, ohne in Verruf zu geraten", ärgert sich der ehemalige ÖVP-Politiker.

Kärntens früherer Landeshauptmann Christof Zernatto, ebenfalls Lobbyist.

Tatsächlich verstrickt sich die bei jedem neuen Fall zuverlässig aufkeimende Empörung in einen Widerspruch: Einerseits wird verlangt, dass Politiker, die dem Staat nicht mehr dienen, auf eigenen Beinen stehen und dem Steuerzahler nicht auf der Tasche liegen. Andererseits gibt es zahlreiche Jobs, die nach einer Politkarriere als Tabu gelten, etwa im Glücksspielbereich.

Was sollen ehemalige Politiker also tun?

Derzeit steht ihnen, wenn sie dem Staat den Rücken kehren, je nach Funktion für höchstens sechs Monate eine Entgeltfortzahlung zu. Die maximale Bezugsdauer wurde 2003 halbiert, nachdem der öffentliche Druck zu groß geworden war: Blaue Kurzzeitregierungsmitglieder bezogen nach dem Ausscheiden aus ihren Ämtern für weitere zwölf Monate ein öffentliches Salär – konnten "auf Staatskosten spazieren gehen", wie damals nicht wenige ätzten.

Der ehemalige deutsche Kanzler Gerhard Schröder verdient sein Geld heute als Wirtschaftslobbyist.

Der Politologe Sickinger findet aus heutiger Sicht die alte Regelung gar nicht so schlecht. Wenn auch mit Einschränkungen: Er fordert, wie zahlreiche andere internationale Experten auch, eine Cooling-off-Phase für Politiker – also eine Zeit, in der ausgeschiedene Politiker weiterhin vom Staat bezahlt werden, bevor sie ihr Insiderwissen vergolden können.

"Das wäre zumindest dann legitim und wünschenswert, wenn sie ein Jobangebot aufgrund einer Unvereinbarkeit mit dem vorherigen Amt ausschlagen müssen und keine Chance auf einen anderen adäquaten Job haben." Befinden sollte über etwaige Unvereinbarkeiten ein unabhängiges Gremium, sagt Sickinger.

Für Mitglieder der EU-Kommission gibt es bereits jetzt großzügige Regeln zur geordneten Rückkehr in die Privatwirtschaft. In einer Abkühlphase von bis zu drei Jahren erhält ein Kommissar 45 bis 60 Prozent seines bisherigen Gehalts – rund 10.000 Euro pro Monat.

Anstoß für die Diskussion über europäisches "Cooling off" war der spektakuläre Fall Martin Bengemann: Der deutsche EU-Kommissar für Telekommunikation heuerte 2000 beim spanischen Konzern Telefónica an – und bezog zeitgleich sein Übergangsgeld von der Kommission.

Martin Bengemann war erst EU-Kommissar für Telekommunikation, dann prompt Vorstand eines Telefonkonzerns.

Die Causa Barroso heizte die Debatte erneut an. Da der ehemalige Kommissionspräsident auf sein Cooling-off-Geld verzichtete, hatte die Union 2016 noch keine Handhabe gegen seinen Millionenvertrag mit der US-Investmentbank.

Vormalige Politiker, die ganz öffentlich die Seiten wechseln, seien aber gar nicht das Problem, betont Sickinger. Ex-Politiker wie Christof Zernatto oder der frühere rote Bundesgeschäftsführer Josef Kalina und die vielen ehemaligen Staatsmitarbeiter aus der zweiten Reihe, die Agenturen eröffnet haben und nun den Bereich "Public Affairs" dominieren – die arbeiteten ja ordentlich, sagt Sickinger.

Es sind vielmehr das unsichtbare Geflecht aus Wirtschaft und Politik, die heimliche Einflussnahme, die vertraulichen Gespräche und Treffen mit ehemaligen Kollegen und Parteifreunden, die nicht nur dem Wissenschafter Sorgen bereiten.

Altkanzler Viktor Klima verließ das Land – und wurde VW-Manager.

Zernatto hält fest, dass der Wechsel in einen zivilen Beruf nichts mit Böswilligkeit zu tun habe – sondern oft auch eine Existenzfrage sei: "Manche müssen nach dem Amtsverlust für sich selbst sorgen. So wie ich." Bis zur Pension hatte der ÖVP-Mann noch mehrere Jahre zu überbrücken, irgendwie habe er seinen Lebensunterhalt bis dahin bestreiten müssen.

"Es macht niemandem Spaß, nicht länger als untadelige Person zu gelten. Viele müssen einen enormen Imageschaden in Kauf nehmen", sagt Zernatto. Darüber hinaus wolle doch auch niemand, dass Altpolitiker "in Logen sitzende Berufskommentatoren" werden oder Versorgungsposten besetzen.

Genau diesem Ruch wollte Altkanzler Viktor Klima entgehen: Der Sozialdemokrat wechselte im Jahr 2000 als Manager zu Volkswagen Argentinien – und wanderte aus. (Katharina Mittelstaedt, 10.3.2018)