Nicht nur in Kärnten sind Begriffe wie "Tradition", "Heimat", "Volkstum" oder "Brauchtum" allgegenwärtig. Aber nirgendwo anders als in Kärnten werden diese Begriffe so inflationär gebraucht. In der Werbung, in Berichten der "Kleinen Zeitung" ("Warum die Kärntner ihr Land lieben") und insbesondere in der Politik findet dieses Begriffsarsenal in kämpferischer Weise Verwendung: "Wer das Brauchtum pflegt und Tradition vermittelt, gibt unserer Heimat eine Seele. Brauchtum schafft Identität", behauptete der Kärntner ÖVP-Landesrat Christian Benger anlässlich der Brauchtumsmesse 2014.

"Heimat" wird in dieser Lesart gleichgesetzt mit "überliefertem Brauchtum", das angeblich "schon immer" da gewesen sein soll. Der Begriff "Tradition" steht dabei für Kontinuität. In welcher Weise eine Festschreibung solcher Kontinuitäten allerdings fragwürdig ist, ist für die Volkskunde schon seit Langem State of the Art, also der internationale Forschungsstand: Volkstanz, Tracht und volkstümliche Feste sind zumeist bewusste Rückgriffe auf Formen einer älteren, bäuerlichen Kultur, die in Krisenzeiten vorgenommen wurden. Die Etablierung der "Tracht" etwa ist das Ergebnis einer Innovation der Romantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung die bürgerliche Gesellschaft erschütterte. Der "Kärntner Anzug" wurde 1911 per staatlichem Dekret eingeführt und sollte eine Stärkung des Landesbewusstseins herbeiführen. Mit "original" hat das überhaupt nichts zu tun.

ÖVP-Landesrat Benger wirbt in einer Petition für die Sicherung der Kärntner Tracht als Kulturerbe.
Screenshot: heimatstolz.info

"Volkskultur" wird zum Gefängnis

Die Volkskultur und das Brauchtum sind also mitnichten bruchlos von Generation zu Generation weitergegebenes kulturelles Erbe, sondern ein intendierter Rückgriff auf ein bestehendes Arsenal kultureller Formen und Artefakte. Mittels besagter Begriffe wird der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart gelenkt und die damit verbundenen Deutungen werden "geglaubt, nachgelebt und zur Erfahrung gemacht", so der Volkskundler Konrad Köstlin. Zugleich werden diese Begriffe politisch instrumentalisiert. Sie bilden die Grundlage in die Unterscheidung von "Wir" und "Ihr" sowie für sozialen Ein- und Ausschluss, obwohl – oder gerade weil – in ihnen laut Köstlin der "bürgerliche Traum von der Homogenität einer Kultur" angelegt ist.

Auf diese Weise werden "Kultur" und "Volkskultur" zu einem Gefängnis, das die Menschen in ahistorischer Weise einsperrt. Darüber hinaus: Brauchtum und Volkskultur wird hier als Bremse gegen soziale Innovation eingesetzt.

Gefährliche Instrumentalisierung 

In der Volkskunde wurde diese Instrumentalisierung unter der Bezeichnung "Folklorismus" diskutiert. Aber mit einem selbsternannten "Brauchtumslandesrat" Benger wird dieser Folklorismus nicht nur zum grotesken Wiedergänger, er nimmt auch eine volkswirtschaftlich gemeingefährliche Dimension an. Der Mann war in der Kärntner Landesregierung nicht nur Landeskulturreferent, sondern auch der Wirtschaftsreferent.

2018, als seine ÖVP ihn im Landtagswahlkampf zu verstecken versuchte, provozierte er im STANDARD-Interview ein überregionales Stirnrunzeln, als er allen Ernstes behauptete, dass der Antrag, die Kärntner Tracht als Unesco-Weltkulturerbe zu verbrämen, dazu beitrage, dass weniger junge Menschen den ländlichen Raum verlassen würden: 

"STANDARD: Kärnten schrumpft. Provokant gefragt: Kann es sein, dass junge, weltoffene Menschen einen Fluchtreflex verspüren, wenn sie hören, dass der Kulturlandesrat sich vor allem für Heimatverbundenheit und Trachten einsetzt?

Benger: Im Gegenteil. Wenn ich eine Identifizierung mit dem Ort habe, habe ich eine stärkere Verankerung. Wenn die Kärntner Trachten, die originalen, nicht die originellen, Unesco-Weltkulturerbe werden, gibt das Identität."

Da fragt man sich schon, ob es in der ÖVP nicht doch jemand geben könnte, der eine etwas komplexere Sicht auf die Welt einnehmen kann.  Benger repräsentiert jene Weltsicht eines (männlichen) Teils der Bevölkerung, die ihren Anteil an den Ursachen der Abwanderung nicht sehen möchte. Es ist aber nicht einfach nur ideologische Verblendung, wenn in der gegenwärtigen Krisensituation erneut Heimat, Volkskultur und Tradition beschworen werden, sondern zu einem guten Teil auch Ratlosigkeit ob der gegenwärtigen Anforderungen.

Die Kärntner Heimatümelei und Traditionspflege behindert den notwendigen soziokulturellen Wandel.
Foto: APA/GERT EGGENBERGER

Wirtschaftliche Entwicklung durch Wandel, nicht durch Brauchtum

Allerdings wäre es höchste Zeit "sich neu zu erfinden" und den rückwärts gerichteten Blick nach vorne zu richten. Es bedarf nicht nur eines umfassenden ökonomischen, sondern auch eines habituellen, das heißt, mentalen Wandels. Dabei hilft weder die Anrufung vermeintlicher traditionaler Gemeinschaften oder erfundener Traditionen, sondern es bedarf dringend sozialer Innovationen. 

Was das konkret heißt? Ein Hinweis aus dem STANDARD:

"Ausbildung, Jobs und Kinderbetreuung – das sind die Hauptgründe, warum gerade Frauen in Ballungsgebiete ziehen. Der ländliche Arbeitsmarkt ist durch Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe stark männlich geprägt und veranlasst Frauen daher zu gehen, ergaben mehrere Studien von Tatjana Fischer, Forscherin an der Wiener Universität für Bodenkultur. Frauen mit höherer Ausbildung finden kaum Arbeitsplätze, die ihrer Qualifikation entsprechen. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen mit Öffnungszeiten, die Frauen die Möglichkeit bieten, am Erwerbsleben teilzunehmen. Veraltete und patriarchale Strukturen tragen auch dazu bei, dass Frauen dem Land den Rücken kehren." 

Hier ließe sich ansetzen. Das Frauenbild der Männer in den Tälern und Dörfern muss sich ändern. Mit der Anrufung von Volkskultur und Brauchtum sowie der Anbetung der Tracht wird sich diese Abwanderung aber nur noch beschleunigen. 

Nun muss man sich über die Umsetzung dieser Forderung keine Illusionen machen. Für eine regionale Entwicklung, die den Braindrain und die Dynamik der Abwanderung auf dem Land und in Dörfern zumindest stoppt, bedarf es selbstverständlich auch mehr als einen Mentalitätswandel. Insbesondere natürlich Infrastrukturmaßnahmen wie der Erhalt beziehungsweise den Ausbau von Kinderbetreuung, Kindergärten und Schulen, aber auch des öffentlichen Nahverkehrs und von Einkaufsmöglichkeiten – klar, dass die Kurz-ÖVP, die mit der FPÖ genau das Gegenteil vorhat, ein Interesse an dem Placebo "Volkskultur" haben wird. Für Entwicklung muss jedoch Geld in die Hand genommen werden. Und staatliche wie kommunale Infrastrukturen werfen keine  Gewinne ab, sie kosten. Einmal mehr sollen "die" auf dem Land mit Volkskultur und Brauchtum reingelegt werden. Dabei gäbe es genug Gründe nicht "das" Volk, sondern die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Aber ein erster Schritt wäre, dass dieser Unfug mit der Volkskultur und dem Brauchtum in der künftigen Landesregierung keinen Widerhall und Platz mehr findet. (Klaus Schönberger, 13.3.2018)