Willkommen in der Zeitmaschine: "Raymonda" mit Liudmila Konovalova ist ein Tanz zurück in die Zukunft.


Foto: Ashley Taylor

Wien – Gespenster der Vergangenheit in der Wiener Staatsoper. Erst starren Studentinnen und Studenten in Talaren und mit Doktorhüten vom eisernen Vorhang auf das Publikum. Ein überdimensionales Schwarz-WeißFoto, vermutlich aus den 1960er-Jahren. Einige der Figuren sind von dem US-amerikanischen Künstler John Baldessari übermalt worden.

Das Hochziehen dieses Bildes macht den rotsamtenen Bühnenvorhang sichtbar. Sobald der sich zur einleitenden Musik von Alexander Glasunow öffnet, wird ein dritter Vorhang enthüllt, der mittelalterlich anmutende Flaggen und unleserliche Schriftbänder zeigt.

Die Spannung steigt. Erst wenn sich auch dieser Vorhang hebt, beginnt das Ballett Raymonda mit einem Tanz zweier gut gelaunter Paare im Inneren einer Burg. Während einige Mädchen an einem Hochzeitskleid nähen und ein Trupp fescher Krieger Einkehr hält, geht hinter dieser Szene ein letzter Vorhang auf. Er gibt den Blick auf ein unheilvolles Abendrot frei. Doch fürchtet euch nicht, ein grandioses Happy End steht bevor!

Bis zum geschlagene drei Stunden später erfolgenden Ende erlebt das Publikum die volle Härte dieses sehr speziellen und sehr klassischen Ballettstücks. Das betrifft die Leistung der Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne genauso wie die Dichte an gebotenen Sensationen. Anlassbezogen – vor dem 200. Geburtstag des Choreografen des Originals, Marius Petipa am vergangenen Sonntag, und dem 80. Geburtstag Rudolf Nurejews, der Raymonda in den 1960er-Jahren wieder auf die Bühne geholt hat – ist das durchaus adäquat.

Überbordender Stil

Rudolf Nurejew ist auf der Fahrt entlang des Baikalsees in einem Wagon der Transsibirischen Eisenbahn zur Welt gekommen. Drei Tage später, am 17. März 1938, wurde seine Geburt in Rasdolnoje nahe Irkutsk amtlich registriert. Marius Petipa, geboren 1818 in Marseille, hat das Stück Anfang 1898 am St. Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführt. Damals galt Raymonda als Höhepunkt eines überbordenden Ballettstils, der ganz am Geschmack der zaristischen Herrschaft orientiert war. Schon im Folgejahr wechselte die Direktion am Mariinski, die Erwartungen an das Ballett veränderten sich, und Ballettmeister Petipas Stern begann zu sinken.

Die Raymonda, wie sie jetzt in Wien auftritt, ist das Ergebnis der bereits fünften Bearbeitung durch Nurejew innerhalb eines Zeitraums von mehr als zwei Jahrzehnten, zwischen 1964 und 1985. Diese Fassung soll dem Original sehr nahe kommen. Das Publikum folgt also einem Zeitzeugnis mit zwei Seiten. Auf der einen zeigt sich der prunkvolle Sonnenuntergang der europäischen Monarchien, auf der anderen die kulturelle Suche des Bürgertums nach 1945 im Hervorholen dieser Tanzästhetik während der ambivalenten Wirtschaftsboomzeit des Kalten Krieges.

Dunkle Zeitgeister

Das fragile Gestell der Handlung – es handelt sich um eine ins 19. Jahrhundert verschleppte Mittelalterromanze – dient nur als Skelett für die reichen Muster eines kapriziös gewobenen Tanzkonzepts, an dem zahlreiche dunkle Zeitgeister nagen. Hier bereits zeigt sich das Ende der großen Erzählungen: im Triumph der dekorativen Form. Und ein "Ende der Geschichte" – im Reigen von historischen Bezügen als raffinierte Spielerei mit spektakulären Wirkungen.

Diese fröhliche Apokalypse hat das Wiener Staatsballett zur Reprise der Raymonda-Wiederaufnahme von 2016 am Freitag mit wahrer Größe getanzt. Liudmila Konovalova als hochvirtuose Raymonda zwischen Disziplin und Leidenschaft, Nikisha Fogo und Natascha Mair als deren brillant unverwüstliche Freundinnen Clémence und Henriette sowie, um etwas tiefer in die Struktur zu leuchten, Ioanna Avraam als Glanzlicht beim Spanischen Tanz im zweiten Akt.

Ein lüsterner Fürst

Das Dämonische am lüsternen Araberfürsten Abderachman hat Michail Sosnovschi leicht abgedimmt, und Leonardo Basilio ließ den idealisierten Kreuzzügler Jean de Brienne als etwas überfordert erscheinen. Unter einem gegenwärtigen Blick wirkt die gesamte Compagnie wie die Besatzung einer musikbetriebenen künstlerischen Zeitmaschine, deren komplexe Anordnungen vor allem dazu dienen sollen, einen ästhetischen Rausch zu transportieren.

Doch dabei macht sie vor allem die kalt glühende Hybris jener Elite spürbar, für die sie inszeniert wurde. Nach diesem Stück wird verständlich, warum Alexej Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Michail Matjuschin und Kasimir Malewitsch 1913, nur 15 Jahre nach der Uraufführung von Raymonda, ihre futuristische Oper im St. Petersburger Lunatheater Sieg über die Sonne nannten. Auf den Bühnenvorhang war damals schlicht ein schwarzes Quadrat gemalt worden. (Helmut Ploebst, 12.3.2018)