"Wir brauchen mehr investigativen Forscherdrang, wie man diese Missstände beseitigen oder lösen könnte": David Boardman, Vorsitzender des Solutions Journalism Network.

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STANDARD: Was ist eigentlich Solutions Journalism?

Boardman: Ich sage lieber gleich, was das nicht ist. Das sind weder Happy News noch Good News, es ist auch weder Heldenverehrung noch anwaltschaftlicher Journalismus.

STANDARD: Wo wir das geklärt haben: Was ist es?

Boardman: Die nächste Entwicklungsstufe des investigativen Journalismus. Ich war selbst lange investigativer Journalist, als Reporter und Redakteur. Die Theorie des investigativen Journalismus ist, ein Problem zu beleuchten, die Öffentlichkeit wird aufmerksam, die Menschen fordern Veränderung, und der Missstand wird behoben. Das kann schon passieren ...

STANDARD: ... aber man kann eher nicht fix davon ausgehen.

Boardman: Solutions Journalism, lösungsorientierter Journalismus, versucht, nicht am Problem hängenzubleiben. Viele Missstände sind bekannt, sie müssen nicht mehr beschrieben werden. Wir brauchen mehr investigativen Forscherdrang, wie man diese Missstände beseitigen oder lösen könnte. Es gibt viele Menschen, die das in aller Welt versuchen – aber wir erfahren kaum davon.

STANDARD: Zeigen Sie uns doch an einem Beispiel, was Sie sich unter lösungsorientiertem Journalismus vorstellen.

Boardman: Nehmen wir, als fiktives Beispiel und weil ich gerade viele europäische Städte sehe, Graffiti. Man kann dem Problem begegnen, indem man Flächen dafür baut oder zur Verfügung stellt. Lösungsorientierter Journalismus würde nicht nur diesen Lösungsansatz darstellen, sondern erklären, warum er in Wien funktioniert, aber in Bratislava keine Chance hätte.

STANDARD: Könnte sein, dass es gravierendere Probleme als Grafitti gibt.

Boardman: Minneapolis in Minnesota hatte ein gewaltiges Problem mit der Radikalisierung von jungen Somaliern in ihrer Stadt. Einige von ihnen schlossen sich dem IS und anderen radikalen Gruppierungen an. Es entstand ein Teufelskreis von Furcht, Verdächtigung und Hass. Je mehr sich die jungen Somalier radikalisierten, desto isolierter wurde auch ihre Elterngeneration in der Stadt und desto radikaler wurden die Jungen. Die Zeitung in Minneapolis entschied daraufhin, nicht länger von "denen" und "uns" und "denen" als Gefahr für "uns" zu schreiben. Sie sind schon einige Generationen hier, also gehören sie zu "uns". Also war die Story: "Wir verlieren unsere Kinder." Das ändert den gesamten Deutungsrahmen.

STANDARD: Das ist lösungsorientiert, aber noch nicht die ganze Lösung, oder?

Boardman: Die Zeitung hat in aller Welt recherchiert, und sie fand in Aarhus in Dänemark ein sehr wirksames Programm gegen diese Radikalisierung. Und über Lösungsansätze wie diese hat sie berichtet. Und die Zeitung hat ihren größtenteils weißen, größtenteils christlichen Leserinnen und Lesern jene Viertel gezeigt, in die sie sich selbst nicht hineintrauen – mit Virtual Reality und 360-Grad-Videos. Der Zugang der Community hat sich dramatisch geändert. Es gab Annäherung und neue Verbindungen, und die Radikalisierung ging merkbar zurück.

STANDARD: Der Zugang funktioniert in längerfristigen Formaten besser als in den Nachrichten.

Boardman: Oft ist es nur eine Denkweise: Hören wir nicht bei den Problemen auf, und verlassen wir uns nicht darauf, dass die Menschen aktiv werden. Aber ja, am wirksamsten waren tiefergehende, längerfristige journalistische Projekte. Dort kann man Wissen und Einsicht vermitteln, um zu einer sinnvolle Veränderung zu kommen.

STANDARD: Solche Projekte müssen sich Medien leisten können und wollen.

Boardman: Das ist ein Investment, aber eines, das sich lohnt. Leser, Zuschauer, Hörer reagieren extrem positiv auf diese Art von Berichterstattung. Solche Storys werden in sozialen Medien viel länger verbreitet als traditionelle, negative Nachrichten. Die werden sehr schnell sehr oft geteilt – aber nur sehr kurzfristig. Diese Art von Journalismus bindet das Publikum länger und lässt es wiederkommen.

STANDARD: Und Sie sehen auch eine messbare gesellschaftliche Wirkung?

Boardman: Wir sehen Beispiel um Beispiel, wo diese Art des Journalismus zu geänderter Politik und Gesetzesänderungen führte, zu besseren Prüfungsergebnissen von Schülern, abnehmender Radikalisierung und auch wirtschaftlichen Verbesserungen. Wir sehen, dass das Menschen bewegen kann.

STANDARD: Da liegt die Grenze zum Aktivismus schon recht nahe.

Boardman: Wenn Sie nur berichten wollen, was passiert ist, dann machen Sie doch einen Stenografie-Kurs. Unsere Aufgabe ist, zu erklären, warum etwas passiert und wie und was als Nächstes zu erwarten ist. Wir sollten Menschen mit Wissen ausstatten und ermächtigen. Wir vertreten keine Positionen wie Anwälte. Aber wir versuchen, die Menschen zu aktivieren, sich für etwas einzusetzen.

STANDARD: Es gab, auch in unserer Zeitung, in den vergangenen Jahren intensive Diskussionen darüber, ob man die Nationalität von Straftätern nennen soll. Was zur Kritik führte, dass Medien da nicht die ganze Wahrheit sagten.

Boardman: Die Frage beschäftigt uns in den USA seit vielen, vielen Jahren, hier insbesondere bei der Kriminalität unter Afroamerikanern. Gesichter der schwarzen Community sah man in den Medien praktisch nur in Basketballberichten und in solchen über Kriminalfälle. Wir haben da durchaus ähnliche Strategien verfolgt und die Hautfarbe nur dann erwähnt, wenn sie für die Story relevant war. Das ist eine relevante Frage, auf die es keine globale Antwort gibt. Und sie führt uns aber weiter zur größeren Frage: Welche Wege gibt es zu einer integrierten, gleichberechtigten Gesellschaft? Und wieder gilt: Man braucht zunächst einmal guten, investigativen Journalismus, der das Problem identifiziert und benennt.

STANDARD: Sie touren zwar gerade durch Europa, um Solutions Journalism zu promoten, aber: Sagen Sie mir doch ein Beispiel, wo er nicht funktioniert hat.

Boardman: Natürlich kann und soll nicht jede Story eine lösungsorientierte sein. Und natürlich geht es in vielen Fällen erst einmal darum, das Problem zu identifizieren und zu benennen. Es funktioniert auch nicht für jedes Medium. Ich sehe wenig Interesse daran bei sensationsgierigen Boulevardblättern. Das ist schon okay. Die Menschen sollen nur wissen, was sie wo bekommen. Und ich glaube daran, dass viele, viele Bürger Qualität wählen, wenn sie die Wahl haben.

STANDARD: Die – insbesondere digitalen – Abozahlen von "New York Times" und "Washington Post" steigen gewaltig.

Boardman: Und nicht nur ihre. Wir sehen ermutigende Entwicklungen bei qualitätvollen Regionaltiteln wie dem "Philadelphia Inquirer", der "Minneapolis Star Tribune", dem "Boston Globe" und der "Seattle Times".

STANDARD: Wie unterscheidet sich Ihr Konzept des Solutions Journalism vom Constructive Journalism, den der Däne Ulrik Haagerup vertritt?

Boardman: Es gibt große Überschneidungen, ich habe bei seiner Konferenz auch vorgetragen. Größter Unterschied aus meiner Sicht ist ihr Paradigma der positiven Nachrichten, die negative Nachrichten ausbalancieren sollen. Das ist nicht unsere Begrifflichkeit. Uns geht es nicht um positive Nachrichten. Wir wollen vollständige Nachrichten, die ganze Geschichte. Wir betonen das klassisch Investigative. Aber die Ziele verbinden uns, und wir haben auch sehr ähnliche Prinzipien.

STANDARD: Wie geht man denn journalistisch konstruktiv oder lösungsorientiert mit dem Phänomen Donald Trump um?

Boardman: Wir reden viel über den Niedergang des Vertrauens in Medien. In den USA machen wir gerne Präsident Trump und seine Angriffe auf die Medien dafür verantwortlich. Aber man muss sich vor Augen führen: Das ist ein Drehbuch für eine ganze Generation populistischer Führer. Sie können die Namen austauschen, und das Muster passt auf viele Staaten – wir sehen das in Ihrem Land, in der Slowakei, in Tschechien, in Ungarn, in Polen. Es ist dasselbe Drehbuch. Aber diese Politiker schaffen diesen Vertrauensverlust nicht. Sie greifen ihn auf und nutzen ihn für ihre Zwecke. Das Vertrauen schwand und schwand über Jahrzehnte.

STANDARD: Wie sollen Medien über Trump und andere im Sinne eines lösungsorientierten Journalismus berichten?

Boardman: Ich muss zugegeben, ich habe dafür kein Rezept. Aber es kann schon aufschlussreich sein, darüber mit einem internationalen, globalen Zugang zu berichten. Die internationalen Kräfte zu identifizieren, die solche Führungspersönlichkeiten möglich machen – und was wir da etwa aus den 1930ern lernen können. Ich habe in den USA jedenfalls noch nicht davon gelesen, dass man diesem Trumpismus ebenso gut in dem einen oder anderen europäischen Land begegnen könnte. (Harald Fidler, 13.3.2018)